91 Günter Jäckel Zwischen Biedermeier und Revolution Zum 200. Geburtstag von Carl Gustav Nieritz Der Dresdner Armenschullehrer und Schriftsteller wurde am 5. Juli 1795 im Polnischen Brauhaus der Inneren Neustadt geboren, und er starb am 18. Februar 1876 in seinem Haus auf der Antonstraße 6. Seine »Selbstbiographie« von 1872 11 stand stets im Schatten der Lebenserinnerungen von Ludwig Richter und Wilhelm von Kügelgen; sein umfangreiches Werk - gegen 200 Erzählungen, vor allem für die Jugend - ist nahezu vergessen, doch eine Straße und ein Denkmal erinnern an ihn. Sein Grab auf dem Friedhof der Inneren Neu stadt ist erhalten; sein Haus ist von Bomben zerstört, verwüstet der Garten, in dem er seine Geschichten schrieb, verbrannt seine Gemälde. 21 Die Erinnerung an ihn, der mit seiner »Selbstbiographie« zu einem der bedeutendsten Chronisten der Jahre zwischen 1805 und 1850 in Dresden wurde, ist dürftig. Nieritz war Zeuge von Goethe- und Napoleonzeit, von Kriegen und Restaurationen. Er hat wenig von der Stadt der Kurfürsten und Könige be schrieben; nie die leuchtende Stromsilhouette, kaum die Gemäldesammlungen, die Musik - obschon er selbst teilhatte an allen Formen der Kunst. Sein Thema ist das Leben der »Erniedrigten und Beleidigten«, der Armen in den dumpfen Hinterhöfen und Gassen der Neustadt. Er hat nichts vom Pathos der revolutionären Autbrüche um 1830/31 und 1848/49 empfunden; aber viel von der Arroganz der Macht. Er kannte die Elendsquartiere der Verstoßenen und die Salons der Reichen, deren Kindern er Privatstunden gab, und er hat sorgfältig beobachtet und genau beschrieben. Er lebte noch in der alten, ungeteilten Zeit, als Leipzig mit der Postkutsche 36 Stunden entfernt war, und schon in der Eisen bahnzeit, jenem Jahrhundertereignis, das Heine mit der Entdeckung Amerikas verglich. Seine Lebenserinnerungen sollten an seinem 200. Geburtstag nicht nur gelobt, sondern auch gelesen werden; die Stadt hätte sich ihres nahezu vergessenen Sohnes ein wenig mehr annehmen sollen ... Bedenkt man seine soziale Herkunft, so scheint es seltsam, daß in der »Selbstbiographie« das Kapitel über die revolutionären Ereignisse von 1849 am wenigsten informationsreich und anschaulich ist. 3) Es ist überschrieben mit »Der Aufruhr und seine Folgen« und beginnt so: »Drei Kriege hatte ich erlebt und deren Schrecknisse, namentlich in dem letz ten, kennen gelernt. Doch sie waren nichts gegen den Aufruhr und Bürgerkrieg in den