KAISER JOSEF II. UND SEINE GELIEBTE Von ANTON KUH E s Hegt in der Natur der Weltgeschichte, daß sie sich fortbewegt. Jahre folgen auf Jahre, Jahrzehnte auf Jahrzehnte, die Zeit aber schreitet währenddessen immer weiter. Was nicht mehr ist, pflegen wir Vergangenheit zu nennen. Und so hat es für uns einen eigenen, undefinierbaren Reiz, wenn es uns einmal glückt, ein . Eckchen des Schleiers zu lüften, der das Gewesene deckt. Solche Gefühle bewegten mich, als ich vor wenigen Tagen die seltene Gelegenheit hatte, mit der 108jährigen Greisin Josefa Zwirzina zu sprechen, deren Großtante noch eine persönliche Bekannte des unvergeßlichen Aufhebers der Leibeigenschaft gewesen ist. Ein trauter Zauber, dem der Duft entschwundener Zeiten ent strömt, liegt über der betagten Sprecherin und dem bescheidenen Zimmerchen im zweiten Stock der Staudiglgasse Nummer 17b, das sie draußen in Favoriten, fernab vom Getriebe der Großstadt, bewohnt. Und nun wollen wir ihr selbst das Wort lassen: »Ja, der gute Kaiser Josef«, sagt Frau Zwirzina, indem sie sich gerührt in ihr alt modisches Tüchlein schneuzt, »den hat die Nanni-Tant noch gut gekannt. Aber alle beide sind jetzt leider schon tot. Sie müssen näm lich wissen, meine Tante war nur eine ein fache Prostituierte. Zu den damaligen Zeiten haben die Madeln halt noch nicht so hoch hinauswollen, wie heutzutag. Aber vielleicht waren sie grad darum glücklicher. Wie oft hat mir die Nanni-Tant erzählt, wie sie den lieben Kaises kennen gelernt hat. Sie war da mals in dem in ganz Wien bekannten und be liebten Haus »Zum gelben Affen« konditio niert, in der Schüttelstraße Nr. 3; heut steht dort eine Bank. Eines Tages kommt dorthin ein schöngekleideter Herr, und gleich hat die 'Tante gesagt: »Der hat ganz dieselben schö nen blauen Augen wie unser Kaiser.« Und richtig, er war’s. Wenn er auch ein Kaiser war und sie nur ein schlichtes bürgerliches Freimadel, er hat doch mit ihr verkehrt, da hat’s bei ihm keinen Stolz gegeben. Natür lich ist er immer nur inkognito gekommen; Tseinen Namen haben wir nie erfahren. Immer hat er geklopft und nie geläutet. Und denken Sie, einen Zopf hat er getragen, wie eine Dame, und einen dreieckigen Hut! Immer wenn er gekommen ist, war seine erste Frage: »Ist die Nanni am Zimmer?« Und wenn es hieß: »Nein!«, dann leuchteten seine schönen Augen in inniger Freude. Und auch sonst war er so idealisch veranlagt! Auf Gold hat er gar keinen Wert gelegt, und deshalb hat er auch nie einem Madel etwas gegeben. Auch über Politik hat er hier und da gesprochen. Wie’s einmal geheißen hat, daß uns die Türken den Carl Hofer 3 33