Der Bourgeois und die Liebe Von Emmanuel Berl D er Bourgeois ist ein Mann, der Geld hat und Achtung genießt und nach immer mehr Geld und immer mehr Achtung verlangt. So ist sein ganzes Leben auf Hoffnung eingestellt, wobei die Liebe keine Rolle spielt. Solange er ein Kind ist, wird er unaufhörlich gefragt: „Was wirst du einmal werden?“ Nun folgt eine lange Lehrzeit, und der schönste Teil der Jugend vergeht damit, Titel und Kenntnisse zu erwerben, die der Jüngling in Werte umsetzt, sobald er erwachsen ist. Im Alter erntet er und heimst die Früchte ein: Orden, fette Stellen, Renten, Pensionen. Das ist der glücklichste Abschnitt seines Lebens. In diesem Universum, das sich der Bourgeois schafft, muß ihm die Liebe als drohendes Unheil erscheinen. Die Liebe ist es, die ihn mit seiner Klasse in Konflikt bringt, ihn manchmal aus seinem Milieu befreit. Die Liebe ist’s, die dem Jüngling den trügerischen Glanz eines Glückes vorgaukelt, das weder der Priester noch der Lehrer, noch der Offizier, noch der Generaldirektor zu spenden vermögen. Die die Mauern des Verurteilten in die Luft sprengt. Den Kassier veruntreuen läßt. Und das illegitime Kind! Und das Dienstmädchen, das seine Pflicht vernachlässigt! Im Besitze einer Macht, die der Bourgeois weder zu überwinden noch zu schwächen vermag, ist die Liebe zugleich anarchistisch und ordinär. Sie verletzt den Bourgeois, weil sie die Hierarchien, die der Bourgeois aufstellt, zerschmettert und weil sie die Menschen miteinander verbindet, ohne Ansehen der Kaste und des Standes. So ist der Konflikt zwischen dem Bourgeois und der Liebe unausweichlich und tief gehend. Die Liebe bringt in die individuellen Beziehungen des Bourgeois Wider sprüche, jenen gleich, die der nationale Kampf und die Wirtschaftskrise in seine sozialen Beziehungen bringen. Er vermag nicht, diese Widersprüche aufzuheben, er vermag nur seine Haltung ihnen gegenüber zu verändern. Die Arglist, die Grausamkeit, mit der der Bourgeois sich gegen die Liebe wehrt, die Brutalität und Schläue seiner Verteidigung, beweisen genügend, wie sehr ihm die Liebe Angst einflößt. Er ist von der Liebe um so mehr besessen, als er sie fürchtet. Auch von der Frau ist er besessen, sie ist für ihn die Welt des Geheimnisvollen. Sobald er zu denken beginnt, denkt er an sie. Aber was denkt er von ihr ? Unmöglich darauf zu antworten. Denn sofort unterscheidet der Bourgeois zwischen den Damen und den anderen. Schon von frühester Kindheit an gilt es für ihn als ausgemacht, daß nicht derselbe Maßstab für seine Mutter und sein Dienstmädchen angelegt werden darf. Der Bourgeois kann sich beim Denken nicht davon freimachen, alles zu klassi fizieren. Jede Gemeinschaft, jedes Individuum scheint einem besonderen Frauentypus nachzujagen. Antigone herrscht in der Dichtkunst Athens. Der Begriff „Frau“ ist eindeutig für den Venezianer des XVI., für den Wiener des XVII. Jahrhunderts. Aber für den französischen Bourgeois ? Ist es die Grisette oder das junge Mädchen der guten Gesellschaft, die verheiratete Frau oder die Kurtisane, die ihm Glück zu geben vermag ? Wird er, was er sucht, in der Ehe finden, im Ehebruch oder in der Ausschweifung? 166