Montaigne und die Verständigung Von Rudolf Fischer \ uf den Völkerhaß des großen Krieges folgte die sogenannte Völker- xl-Verständigung. Sie sind Zwillingsgeschwister — und nicht einmal feind liche. Kinder einer Epoche, die es nun einmal sich aufgeladen hatte, Massen an der Politik teilnehmen zu lassen, oder genauer gesagt: sie dazu zu zwingen. Als die französische Revolution Gevatter Schuster und Hand schuhmacher die Flinte in die Hand drückte und Krieger aus ihnen machte wurde der Völkerhaß geboren. Er wuchs langsam. Noch ein paar Jahr zehnte später machte sich in seinen altväterlich ausgesponnenen Spöttereien über den Snob Thakeray darüber lustig, daß der kleine Kaufmann in seiner Zeitung lesen wollte, ob vorgestern zwei Stämme in Tibet sich in die Haare geraten seien. Er hielt das für Snobismus. Du lieber Gott! Was hätte er erst zu jener Völkerverständigung gesagt, wie sie nach dem Kriege von jenen Kreisen betrieben wurde, die sich in Wahrheit nicht viel zu verständigen brauchen, weil sie sich teils von Anbeginn hinter allen Grenzen zum Ver wechseln gleichen, teils so verwaschen, so gesichtslos geworden sind, daß es überhaupt schwer fällt, Eigenarten, am allerwenigsten nationale, an ihnen wahrzunehmen. Die Verständigung war, genau so wie der Völkerhaß während des Krieges, der für abgehackte Kinderhände Glauben gefunden hatte, auf jenen Horizont zugeschnitten, den unser Cäsar Flaischlen in seiner vollen Ausdehnung abschritt, als er die Devise für bunt bemalte Holzherzen über lädchenbetten ausgab: Hab’ Sonne im Herzen! Man könnte auch hinzu- fugen: Alles verstehen heißt alles verzeihen! Ich weiß im Augenblick den Urheber dieses Geistesblitzes nicht zu nennen. Oder es hieß: Sie sind doch auch Menschen! Was niemand gern bestreiten möchte. Bei solcher Sorte von Verständigung fahren die Länder schlecht, welche die besten Volksschulen haben. Weder den Franzosen noch den Engländern wird das jemand nachsagen können. Da wuchert der Garten der Vorurteile, — es ist vielleicht sogar der Schulgarten selber. Was dabei herauskommt, mußte zu seinem Schmerz einmal ein verwichenes Verständigungsblatt er fahren, das sich an ein britisches Ladenmädchen gewagt hatte. Das gute Kind hatte nur einmal einen Deutschen gesehen, der zufällig schlechte Tischsitten gehabt und mit Heißhunger ein Gericht verzehrt hatte, das ihr selber widerstrebte. Man kann sich denken, wie sich in diesem Kopfe der Deutsche malte. Schon das M ort Verständigung mahnt zur Vorsicht. Händler verstän digen sich, Krieger schließen Frieden. Sie allein vermögen es. Sie verwalten, was früher ein Vorrecht des Adels war. Es gab für den Krieg so gut wie ur den Zweikampf einen Kodex, einen Komment. Der Völkerhaß, die Kriegs maschine und das formlose „Material“ der modernen Schlachten haben ihn überschwemmt. Bei den Fliegern hatte er sich am reinsten erhalten. Spuren davon linden sich in der Roten-Kreuz-Konvention und wohl auch im Völker- 288