Oskar Kokoschka Die Anbetung der Jungfrau Von Emmanuel Berl D as junge Mädchen hat sich sehr verändert, ist viel moderner geworden; es entzündet sich an den Heldinnen des Kinos. Dort sehen wir zweifellos immer das Neueste. Wir erleben eine große „Hausse“ des jungen Mädchens: es hat schon England und Amerika erobert. In Frankreich hat die Jungfrau den Himmel erstürmt. Man denke nur an den erstaunlichen Aufstieg der Jeanne d’Arc. Der Heilige ist im Ansehen gefallen. Der Mann vermag sich den von Gebeten zermarterten Mann nicht mehr vorzu stellen. Die Jungfrau wird der einzige Vermittler zwischen Mensch und Gott. Und es hat den Anschein, daß die Jungfrau immer mehr und mehr als Jungfrau und immer weniger als Mutter erscheint. Zahlreich sind die Statuen, die sie im himmelblauen Gewand ohne ihren Sohn darstellen. Durch die Überzahl der Frauen wird es für die Mädchen immer schwerer zu heiraten. Die Mutterschaft ist weniger erwünscht, weil im XX. Jahrhundert die Erde übervölkert ist und die Lebensbedingungen seit dem Kriege viel schwerer geworden sind. Daher ist die Jungfrau nicht mehr „die Frau in der Knospe“. Sie existiert an sich und für sich. Und es muß so sein. Ja, es gelingt ihr sogar, die Frau in den Typus zu zwängen, den sie sich selbst zugelegt hat. Es ist nicht mehr das junge Mädchen, das sich seiner Magerkeit und seiner „Salzfässer“ schämt! Es ist die Frau, die, soviel sie kann, ihre Hüften, ihren Bauch zusammen schnürt: sie fürchtet die Merkmale der Mutterschaft, die die Mode verdammt. Die Jungfräulichkeit schreckt eher vor Fruchtbarkeit als vor Ausschweifung 233