Bei Seelenkranken und Seelenärzten Von Rudolf Großmann E in befreundeter Arzt zeigt die Anstalt. Nach Überwindung eines Grauens, das den Laien zunächst befällt und das im Grunde der Erschütterung und Bedrohung eigener Daseinssicherheit gilt, überraschen mich zunächst die Aus drucksbewegungen der Kranken. Ich sah Katatoniker in den schwierigsten, unmöglichsten Stellungen oft stundenlang verkrampft stehen, Frauen in manie- ristischen Stellungen wie barocke Tanzfiguren tänzeln. Andere mit Abwehr bewegungen, die sie wie beim bösen Blick mit zwei gespreizten Fingern gegen den Besucher führen. Ich sah Melancholiker, deren Augenbrauen am Nasenwurzel ende dauernd schräg stehen (ein Ausdruck, den man auch oft unter Normalen beim Schmerz oder bei Frauen, wenn sie moralisch beunruhigt sind, beobachten kann), sah ihre „körperlichen Melancholien“ in ihren schlaff herabhängenden Gliedern. Größenwahnsinnige reckten sich in Hoheitsgeste an mir vorbei, die meine Existenz auszulöschen schien. Lebendige Menschen, die nur noch Schemen, Schatten ihrer selbst sind, Emotionen, die sich ohne Hemmungen ausleben, Muskeln, die sich wie von selbst spannen, Zähne, die in der Wut frei werden. Man könnte an Rückbildungen in die Tierwelt denken. Was ist erworben? was ererbt? was Schicksal? und was Schuld in diesen Dramen? Hinter Gittern werden Paralytiker gefüttert wie Tiere, ausgestopft bei lebendigem Leibe. Ganze Gesichtshälften wirken wächsern, leblos wie anatomische Präparate. Einer am Gitter stößt unartikulierte Laute aus, fletscht die Zähne, langsam erlöscht ein Sinn nach dem ändern. Ob sie es merken? Ob sie überhaupt noch empfinden? Ob Begriffe, wie Trauer, Schmerz, Mitleid, überhaupt für sie noch gelten? Viele kommen bei unserem Rundgang zum Arzt wie geschlagene, gezähmte Tiere. Bei ändern ist es nicht leicht, ihre Wildheit einzufangen. Zuerst sah ich die Kranken bei der Wanderung durch die vielen Säle, wo sie meist in Betten hegen, durch die Anstaltshöfe, wo sie Gartenarbeit verrichten, obwohl immer mehrere zusammen sind ohne jeden Zusammenhang, ohne jede Verständigung unter sich; dann wieder fragte ich mich, ob nicht doch bestimmte ähnliche Typen von Geisteskranken sich untereinander besser verstehen, als wir sie. Ob nicht ein anderes Weltbild sie nur von uns trennt, von dem aus gesehen sie uns mit demselben Recht für verrückt halten könnten. Denn unser Weltbild ist ja auch vorgestellt, existiert in gewissem Sinn ja nur in unserem Gehirn. Es fehlt ihnen vielleicht nur die simple Fähigkeit des Nachkontrollierens. Ich las das ausgezeichnete Buch von Kronfeld „Perspektiven der Seelenheilkunde“ und merkte, daß eigentlich keine Wissenschaft philosophischer ist als die Psychiatrie. Denn keine ist näher an der erlebten Problematik alles Geistigen, aller „Wirklich keit“ und aller Scheinsicherheit und Scheinbarkeit des Menschlichen. Kronfeld ist ein Psychiater, der den Drang hat, mit der Fragwürdigkeit fertig zu werden, die den Voraussetzungen des menschlichen Daseins und der uns begegnenden Wirklichkeit anhaftet. Für den Menschen, den wir geisteskrank nennen, ist 680