Talent und Genie Von Jules Renard M an muß viel Talent haben, doch ein wenig Genie genügt. Ich kenne nur die eine Wahrheit: in der Arbeit allein liegt unser Glück. Von dieser Wahrheit bin ich überzeugt und vergesse sie fortwährend. Schmeichelei ist angenehm wie ein sanfter Nordwind, aber man kann damit nicht segeln. Bescheidenheit kann eine Art von Hochmut sein, die über die Hinter treppe kommt. Man legt seine Schmeicheleien an, wie man sein Geld anlegt, um sie mit Zinsen zurückzuerhalten. Das Genie verhält sich vielleicht zum Talent, wie der Instinkt zur Ver nunft. Neid ist nur die Furcht, Schönes, das man sieht, nicht selbst verwirk lichen zu können. Man verachtet den Künstler ein wenig, weil er kein Geld verdient, er aber begeht das Unrecht, sich etwas darauf einzubilden. Eine einzige Erfahrung festigt sich in mir: alles hängt von der Arbeit ab. Man verdankt ihr alles, sie ist das große Uhrwerk des Lebens. Der Ruhm der anderen befeuert mich fünf Minuten und drückt mich für lange Zeit nieder. Als Strafe für unsere Faulheit gibt es, außer unserm Mißerfolg, den Er folg der anderen. Die Zeit schlüpft durch das Nadelöhr der Stunden. Kunst und Volk, welche Wortverbindung! Nie zufrieden zu sein, darauf beruht die ganze Kunst. Glückliche sind ohne Talente. Um sein Ziel zu erreichen, muß man so viel Wasser in seinen Wein tun, bis kein Wein mehr darin ist. C. erklärt den Erfolg: Eigner Wert, durch die Umstände vervielfältigt. Arbeit ist eine Art Gefängnis. Wie viele schöne Dinge gehen vorbei, die zu sehen sie hindert. Faulheit ist die Gewohnheit, vor der Anstrengung auszuruhen. Bescheidenheit steht berühmten Männern wohl an. Nichts zu sein und trotzdem bescheiden, das ist schwer. Die Genies sind die stärkstem, die achtzehn Stunde täglich unermüdlich schüften können. Ruhm ist eine beständige Anspannung. Schon deshalb habe ich Feinde, weil ich nicht bei all denen Talent zu entdecken vermochte, die mir sagten, ich besäße es in reichem Maße. (Deutsch von Olga Sigall) 691