DIE EWIG JUNGE PHANTASIE. 9 DIE GESCHICHTLICHE WAHRHEIT. Das Sprichwort »Lügen haben kurze Beine« gilt nicht von den Geschichtslügen. Die haben im Gegenteil ein sehr langes, zähes, um nicht zu sagen, ein unzerstörbares Leben — bei die sen muß unbedingt der Beisa^ folgen: »aber dafür tausend«. Die Lust am Fabulieren ist stärker als der Trieb nach Erkennt nis der Wahrheit. »Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie«, ruft Schiller mit einem Loblied auf die »ewig junge Phantasie« den Freunden zu, und im Demetrius läßt er Hiob zur Fürstin Marfa sprechen: »Der Lüge kecke Zu versicht reißt hin. Das Wunderbare findet Gunst und Glauben.« Die Welt will betrogen sein, und sie wird es auch — dafür ist reichlich gesorgt. Der Mensch ist nämlich der geborene Lügner. Jede sprach liche Formulierung ist schon, wie uns der Fachmann erklärt, eine Fälschung: das Wort vom »Schlangenbetrug der Sprache« ist vollauf berechtigt. Im Idiom der französischen Gauner wird die Sprache »la menteuse«, die Lügnerin, im englischen »pra- ting cheat«, schwatjhafte Betrügerin, genannt. Und die zünf tige Sprache der Diplomaten — sie macht gewiß keine Aus nahme. Der bekannte Ausspruch Talleyrands: Gott habe dem Menschen die Sprache gegeben, damit er seine Gedanken ver berge, enthüllt eine ebenso tiefe Wahrheit wie das Wort des Dichters Maeterlink, daß die Menschen, wenn sie sich wirklich etwas zu sagen hätten, gezwungen seien, zu schweigen. Also: sobald der Mensch nur seinen Mund auftut, fängt schon sozusagen die Legendenbildung an, und sie vollzieht sich nach ganz bestimmten Gesehen. Da ist einmal, wie Friedrich Kainz so meisterhaft gezeigt hat, das »Steigerungsphänomen«: der Erzählende verändert, unterstreicht, läßt aus, um die von ihm berichtete Sache wirksamer zu gestalten; der Erfolg, die Sen sation ist ihm die Hauptsache. Die primitivste Form dieses tief in der Natur des Menschen wurzelnden Bedürfnisses nach Aus sprache ist der Klatsch. Ein die Phantasie erregendes Erlebnis wird weitergegeben, weil man sonst, wie gesagt wird, daran »er sticken« würde. Und dabei verfährt man nach der bekannten Methode, da A auf die Kunde von einer merkwürdigen Bege benheit meint: »Man muß nicht alles glauben, was man hört«,