IM SCHATTEN DER FRANZÖSISCHEN 93 REVOLUTION. DIE »MORALISCHE KRANKHEIT«. Von Anfang an waren die Meinungen über die französische Revolution geteilt. Die einen priesen sie als die »größte und allgemeinste Wohltat«, die seit Luthers Zeiten der Glaubens verbesserung der Welt zuteil geworden, als einen »neuen Schöp fungsakt«, die ändern wieder verlästerten sie als das »größte Verbrechen«, das jemals in der Geschichte begangen worden, als die »ungeheuerlichsteTragikomödie der Menschheit«. Indes die ungünstigen Stimmen mehrten sich, als die Pöbelszenen der »Schreckenszeit« hereinbrachen und die an sich wunderschönen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Mißkre dit brachten. Nur wenige tieferblickende Geister suchten, anstatt zu loben oder zu tadeln, die Ursachen des gewaltigen Phänomens sich zurechtzulegen. Es ehrt unseren, vielfach als »Fürstendiener« verschrienen Dichter Goethe, daß er sie nicht einseitig als eine beklagenswerte Verirrung, sondern als etwas notwendig Ge wordenes, als eine Folge der voraufgegangenen Ausschreitun gen der »herrischen Willkür« ansah. »Auch war ich vollkom men überzeugt«, meinte er auf der Höhe seines Lebens stehend, im Januar 1824, zu Eckermann, »daß irgendeine große Revo lution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revo lutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwäh rend gerecht und fortwährend wach sind, so daß sie ihm durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.« Gewiß, eine sehr feine Bemerkung — wie auf die österrei chische Märzkatastrophe, die vierundzwanzig Jahre später er folgen sollte, gemünzt. Aber für die Umwälzung Frankreichs von 1789 stimmt sie insofern nicht ganz, als König Ludwig XVI., von dem ehrlichsten Willen, den Übelständen abzuhelfen, eher ein Zuviel an zeitgemäßen Verbesserungen betätigt hatte. Der Reformeifer einesTurgot hat allem Anschein nach die Entwick lung der Revolution nur beschleunigt, die schon durch eine ganze Reihe anderer Ursachen gut vorbereitet war. Vor allem, so kann man sagen, mußte der König, alles eher, denn ein »Tyrann«, für die Sünden seiner beiden unmittelbaren Vor-