1 ttJ Sein Wirken mag nicht auf Amiens beschränkt gewesen sein. In der näheren und weiteren Umgebung gab es lockende Arbeit genug für einen heranwachsenden Bildhauer. So hat auch die Annahme, daß der Naumburger Meister nicht nur in Amiens, sondern auch unter anderem in Reims gearbeitet habe, viel für sich 10 . In der Naumburger Kunst gibt es eine Anzahl motivischer Anklänge an Reims. So das Motiv des Gewandraffens, das an der Westfassade der Kathedrale zu Reims mehrfach vorkommt. Dort könnte der Naumburger Meister auch mit jenem antikischen Geist in Berührung gekommen sein, den seine Kunst atmet. Die deutlich ablesbare »Parallelität« zwischen der griechischen Antike und der Kunst des hohen Mittelalters besteht ja nicht nur in ihrer Klassizität, sondern auch in einer unmittelbaren Anlehnung. Die Wiedergeburt eines »körperhaft plastischen Empfindens und Denkens« war verbunden mit einem nachweisbaren Antikenstudium. Der Vergleich antiker Gewandstatuen mit denen des 12. und 13. Jahr hunderts läßt auf ein intensives Lernen der mittelalterlichen Bildhauer an antiken Gewandstatuen schließen. So wird die Toga im Mittelalter zu einem Idealgewand, an dem nur die antike Faltenbildung im Prinzip der »Haarnadelfalte« abgewandelt ist. Die Ausbildung des Reimser Gewandstils, wie er vor allem in der Heimsuchungsgruppe zu sehen ist, hat sich unter dem Einfluß damals noch in Reims vor handener antiker Stücke vollzogen. Eine gleiche Ähnlichkeit mit antiken Vorbildern zeigt die Behand lung des Haares bei einigen Reimser Figuren. Reims war damals ein Zentrum des Antikenstudiums. Es besteht die Möglichkeit, daß der Naumburger Meister von hier oder von antiken Werken, die er in Frankreich sah, angeregt wurde. Vielleicht sah er auch in Südfrankreich zahlreiche Zeugen der Antike, in St. Gilles mit seinen berühmten Portalen, deren Plastiken deutlich auf eine Verarbeitung antiken Formengutes und antiker Motive hinweisen. Richard Hamann versuchte erst unlängst dafür einen Beweis anzutreten.