Prag/ Phot.: Krehan Eine Vision der Wirklichkeit von Anton Kuh Kennen Sie die schöne Anekdote von den zwei Juden, die vor Rothschilds Familiengruft stehen? Sie staunen die marmorne Pracht eine Weile an, dann stößt der eine dem ändern in die Seite und spricht aus tiefer Versunkenheit: „Das lebt!“ — In diesem Friedhofausspruch glaube ich die Formel für Prag entdeckt zu haben. In keiner Stadt der Welt ist das Begrabene lebendiger, die Verwesung anheimelnder. Am Familiendunst, der aus engem Gassengewirr auf steigt, hat die Chro nik soviel Anteil wie die Gegenwart. Zu Mittag setzt sich der tote Urahne an den Tisch. Ich lernte die Stadt meiner Väter mit neunzehn Jahren kennen. Man führte mich auf den Fried hof zum Grabmal meines Großvaters, der sich im Geist doch nicht in der Gesinnung seines Enkels als Zeitungs mann und Politiker betätigt hatte, und dafür von Studenten mit der Inschrift bedankt worden war: „Alle Ehre von Krehan Ein idyllischer Winkel der Treue kommt“. Leitartikler vorge schrittenen Alters musterten mich, miß ratenen Erben des Liberalismus, inwie weit ich durch den Ausspruch bewegt würde. Es war eine Luft um uns von Rütlischwur und Ritterschlag. Soviel Pathos war ich nicht gewachsen — ich entlief den Pionieren des Deutschtums in ein tschechisches Beisl. Alt-Prag nahm mir diese Friedhofs flucht übel; doch Neu - Prag, will sagen: der schrift- stellernde Nach wuchs braver Eisen-, Barchent-y Möbel-