117 Zu Bachs Choraltechnik. werden soll — Chromatik nach unten bedeute Klage, Chromatik nach oben sei Sehnsucht —, und belegt der Literat diese Aussage mit einigen zu treffenden Beispielen, so ist cs am Praktiker und Lehrer der Kompositions- tcchnik, mit Gegenbeispielen aufzuwarten, das heißt: mit Beispielen dafür, daß der diatonische Bach mitunter auch aus artistischem Grund — etwa um der fließenden Bewegung des Melos keine Stockung cinzuräumcn — einige Tone aus der chromatischen Skala bezieht. Überhaupt haben wir uns — infolge einer Analyseninflation und hermeneutischen Verbissenheit — daran gewohnt, bei dinghaften Cinzelzllgcn stehen zu bleiben und die mitwirkenden Faktore der Diction des Ganzen außer Acht zu lasten. Um sich mit dem eingangs gebotenen Notcnbeispicl zu begnügen: Die dritte Stimme schließt chromatisch, b-a-as-A, das heißt: die melo dische Füllung der kleinen Terz d-§ wird durch das eingeschobcne, rhyth misch fließende Sechszehntel as zu einem chromatischen Segment. Nun kann man gewiß eine Menge von Beispielen anführen, wo solch ein fallen des Chroma eine Klage oder ähnliche Affektlaute auszudrücken hat; im gegebenen Fall aber kann dies nimmermehr seine Aufgabe und Befugnis sein, hier, im Ausklang unseres Weihnachtslicdes mit der frohen Botschaft. Dieses ist ein Beispiel aus dem Kapitel Jntervallfunktion. Und so ähnlich lassen sich ungezählte Beispiele und Gegebenheiten aus sämtlichen Bezirken der Technik anführen. Dem Pächterstolz unserer „Bachvereine" steht der Kleinmut gegenüber, der ihn befallen hat oder befallen muß, wenn die Rechnung, eine Aufstellung der Bachschulden vorgelegt wird, der Schulden an handwerklichen Studien. Alle technischen Vorfragen müssen gelehrt, methodisch gelehrt und gelemt werden. Sie gehören in die Schule, ohne darum dort und nur dort hocken zu müssen und den Schüler niederzuhalten. Im Gegenteil: sie werden ihn beschwingen; sie werden ihn beim Austritt aus der Schule zu einer windsicher schwebenden und, ge fährdet, trotzenden Bachäfthetik beschwingen. Die Vorschulung für Bach — diese Vorschulung als ein volksgemäß Ganzes und doch Teilbares — fehlt uns noch. Auch sie wird weit ausholen müssen und kann zuletzt — eben durch den Säcmann Bach — den Volks- geift unserer Jugend, dieses prächtige und kräftestrotzende Saatfeld, bebauen helfen. Hier muß tief geackert werden. Auf dein Acker kennt man nicht Perücke und Puder, und auf dem Acker hat sich die redliche Stim noch nie des Schweißes geschämt. Ackerarbeit und Schweiß gehören zueinander als Wechselbegriffe, als natürliche Correlate; sie sind es seit der Vertreibung aus dem Paradies. Weniger alten Datums gelten uns geistige Arbeit und körperliche Einbuße als Corre late; sie sind es — für die Musik — seit der Entdeckung eines