Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit in Picanders Kantatenjahrgangs-Vorbemerkung und im Werkverzeichnis des Nekrologs auf Johann Sebastian Bach Von William H. Scheide (Princeton, NJ) In der wissenschaftlichen Kontroverse um die Frage von Bachs Vertonung des Picander-Jahrgangs 1 hat sich jüngst erneut Klaus Häfner zu Wort gemeldet. 2 Den Angelpunkt der Diskussion bildet nach wie vor die Vorbemerkung des von Philipp Spitta und Rudolf Wustmann noch benutzten, seit dem zweiten Weltkrieg jedoch verschollenen einzigen nachweisbaren Exemplars des Pican- derschen Textdrucks von 1728: Gott zu Ehren, dem Verlangen guter Freunde zur Folge und vieler Andacht zur Beförde rung habe ich mich entschlossen, gegenwärtige Cantaten zu verfertigen. Ich habe solches Vorhaben desto lieber unternommen, weil ich mir schmeicheln darf, daß vielleicht der Man gel der poetischen Anmuth durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn Capell- Meisters, Bachs, dürfte ersetzet, und diese Lieder in den Haupt-Kirchen des andächtigen Leipzigs angestimmet werden. 3 In seiner Analyse der Grammatik von Picanders zweitem Satz behauptet Häf ner, daß sich „vielleicht“ auf „Mangel“ und nicht auf „dürfte ersetzet“ bezieht (H 2, S. 158). Demnach würde das Adverb zur Modifizierung eines Substantivs anstatt eines Verbs gedient haben. Dieser offensichtliche Irrtum leitet sich her von einer durch Einschieben eines partizipialen Adjektivs vorgenommenen Um formulierung des Picanderschen Wortlauts. Häfner liest die Worte „daß viel leicht der Mangel .. als „daß der ihnen vielleicht anhaftende Mangel . . .“ 4 Da Picander jedoch „vielleicht“ nicht zwischen „der“ und „Mangel“ plaziert, muß die Häfnersche Umformulierung als eine unzulässige Sinnabänderung an gesehen werden. Nun schreibt Häfner ferner in diesem Zusammenhang: . . . der Sinn der beiden Picanderschen Sätze ist eindeutig. Um . . . Mißverständnissen vor zubeugen. seien sie in modernisierender und zugleich interpretierender Formulierung hier nochmals wiedergegeben: ... (H 1, S. 76). Wie aber kann ein „eindeutiger Satz“ zu „Mißverständnissen“ führen? Sollten 1 Darunter vor allem die folgenden Beiträge: S 1 = W. H. Scheide. Ist Mizlers Bericht über Bachs Kantaten korrekt?, Mf 14, 1961, S. 60-65; S 2 = W. H. Scheide, Nochmals Mizlers Kantatenbericht - Eine Erwiderung, Mf 14. 1961. S. 423-427; H 1 = K. Häfner, Der Picander-Jahrgang, BJ 1975, S. 70-113; S 3 = W. H. Scheide, Bach und der Picander- Jahrgang - Eine Erwiderung, BJ 1980, S. 47-51. 2 H 2 = Picander, der Textdichter von Bachs viertem Kantatenjahrgang. Ein neuer Hin weis, Mf 35, 1982, S. 156-162. 3 Dok II, Nr. 245. - PJ I = Textdruck 1728; PJ II — Neuausgabe 1732. 4 H 1 enthält zwei verschiedene Umformulierungen (S. 77 und Anm. 36), von denen die zweite in H 2 wiederholt wird (S. 158). Die erstere wird oben zitiert, die andere fügt „aus stilistischen Gründen“ zwei weitere Worte ein, um die Verbindung von „vielleicht“ und „dürfte“ mit „angestimmet werden“ vollends auszuschalten.