Bachs Markus-Passion 33 Werkes, eines der höchsten, die das Abendland hervorgebracht hat, ist also in ganz wesentlichen Zügen nicht von Bach, sondern von Picander gestaltet worden; und dies in der verblüffend kurzen Zeit von zwei oder drei Wochen. — Ohne Frage ist sich Schering über diese notwendige Konsequenz aus seinen Grundthesen klar gewesen. Hier bewahrheitet sich also wieder, was Goethe im Blick auf die wissenschaftliche Arbeit in die berühmten Worte faßt, „daß der eine mit Bequemlichkeit denken mag, was dem anderen zu denken unmöglich ist“. Dies bedeutet aber zunächst nichts anderes, als daß dieser ganze Fragenkomplex gänzlich ungeeignet ist, den Ausgangspunkt der Diskussion zu bilden. Anders steht es mit den unter Ziff. 1 und 2 mitgeteilten Theorien Scherings. Hier sind — so glaube ich - feste Anhaltspunkte methodischer Art gegeben. Wenn Picander im 3. Bande seiner Gedichte (1732) den Karfreitag 1731 als Aufführungstag der Markus-Passion nennt - er tut es in der 2. Auflage desselben Bandes (1737) ebenfalls -, so wird diese Mitteilung von Schering kurzerhand als Irrtum beiseite geschoben. Wir wollen zugeben, daß ein solcher Irrtum nicht völlig ausgeschlossen ist. 1 ) Spittas Datierung der ersten Aufführung der Matthäus-Passion (1729) beruht bekanntlich nicht auf einer Quellenangabe, sondern auf einem Rückschluß. Inzwischen aber ist eine wichtige Quelle nachgewiesen worden, die Spittas Datierung bestätigt. Aus dem Vorwort des Textbuches zu Felix Mendelssohns berühmter Aufführung des Werkes im März 1829 geht hervor, daß Zelter noch einen originalen Kirchentext der ersten Aufführung in Leipzig besaß, der die Jahresangabe 1729 trug. Damit haben wir aktenmäßige, bezw. literarische Belege für die Aufführungs daten beider Passionen: Matthäus-Passion: 1729 laut dem in Zelters Besitz be findlichen Textbuch Markus-Passion: 1731 laut Picanders Gedichten, Band 3, 1. Aufl. (1732) und 2. Aufl. (1737). Daß an allen drei Stellen ein Irrtum vorliegt ist ausgeschlossen. Die Daten haben hiermit als gesichert zu gelten. Hieraus ergibt sich aber ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Matthäus-Passion und der Köthener Trauer-Musik. Rust und Spitta hatten die Auffassung vertreten, daß in den Parallelstücken beider Werke die Passion das Original, die Trauer-Musik die Kontrafaktur darstelle. Nun ist zwar die Komposition der Trauer-Musik verschollen und nur *) Wie leicht für Schering quellenmäßige Datierungen dieser Art wiegen, habe ich an anderem Ort an dem Beispiel des Weihnachts-Oratoriums gezeigt. (Vergl. meine Schriften reihe über Joh. Seb. Bachs Kirchen-Kantaten. Berlin: Zeitschriften-Verein 1947ff., Heft4. S. 34/35.) Bach-Jahrbuch 1940-1948 3