32 Friedrich Smend Köthener-Trauermusik komponiert hatte, dichtete Picander zu der Mehr zahl der Sätze Parodietexte und ergänzte sie durch Hinzufügung einer sehr viel größeren Anzahl von Stücken zu einer vollständigen Passions dichtung. Diese veröffentlichte er in dem zur Ostermesse 1729 er scheinenden Bande. Die Vertonung begann Bach erst nach dem Oster fest dieses Jahres. Es leuchtet ein, daß die an dritter und vierter Stelle genannten Theorien Scherings von allergrößter Tragweite sind; denn sie berühren ebenso Bachs Verhältnis zum biblischen Text wie die Art seines Schaffens, ins besondere die Entstehung seines opus summum, der Matthäus-Passion. Wir lassen die nicht nur bei Schering, sondern auch sonst in der neueren Bach-Literatur (z. B. bei Alfred Heuß) auftretende Anschauung, Bach habe so etwas wie zwei verschiedene Jesusbilder gekannt, beiseite - eine Anschauung, die der lutherischen Orthodoxie und auch Bach völlig fernlag - und versuchen uns die Entstehung der hierher gehörigen Kompositionen nach Scherings Darstellung konkret vorzustellen. Danach war der Hergang folgender: In den letzten Novembertagen 1728 traf in Leipzig die Nachricht vom Tode Leopolds von Köthen ein. Zugleich erhielt Bach den Auftrag zur Schaffung einer Trauer-Musik für die im folgenden März stattfindende endgültige Beisetzung. Hierfür mußte zunächst von Picander das Textbuch gedichtet werden. Danach vertonte es Bach in Gestalt seines umfangreichen vierteiligen Werkes. Nach Fertigstellung der Komposition erst war die Herstellung der Parodie texte und die Hinzufügung aller übrigen madrigalischen Bestandteile der Matthäus-Passion durch Picander möglich. Die Abfassung dieses Passions-Textbuches muß unmittelbar nach Abschluß der Trauer-Musik und zudem in allerkürzester Frist geschehen sein. Denn spätestens Anfang Januar 1729 müssen die ersten Bogen des 2. Bandes der „Ernst-, scherzhaften und satyrischen Gedichte“, auf denen der Text der Matthäus- Passion steht, in Druck gegeben worden sein, da der umfangreiche Band zur Ostermesse ausgedruckt und gebunden vorlag. Rechnen wir für die Abfassung des Textes und die Ausführung der Komposition der Trauer-Musik vierzehn Tage (weniger ist wohl nicht möglich), so müßte das Textbuch der Matthäus-Passion ebenfalls in vierzehn Tagen, aller- höchstens in drei Wochen, entstanden sein. Dies resultiert aus Scherings Thesen mit Notwendigkeit. Wir müssen aber noch einen Schritt weiter gehen und feststellen: Schon in dem Textbuch der Matthäus-Passion steckt (durch die mit dem Einschalten der madrigalischen Stücke gegebene Gliederung des biblischen Berichtes) einer der entscheidenden Faktoren des Gesamtaufbaues dieses Werkes. Die Architektur dieses Kunst-