84 Hellmuth Christian VC'olff stellen *). Alles, was nicht in das Schema einer achttaktigen Periode paßte, erklärte er als Ausnahme, als Umdeutung, Verkürzung, Verlänge rung u. ä. Eine grundsätzliche Kritik der Riemannschen Methode gab vor allem Ernst Kurth * 2 ). Während die älteren Auffassungen im Rhythmus hauptsächlich ein Maß- oder Betonungssystem gesehen hatten, betrachtete man den Rhythmus nun als Ausdruck eines „ursprünglichen Bewegungszuges", als „drängenden Schwung", als „Konkretisierung einer allgemeineren, elementareren und unterbewußten psychischen Energie-Urerscheinung“ 3 ). Dem alten rationalen Rhythmusbegriff stand in der neuesten Zeit ein anderer entgegen, man sah den Rhythmus jetzt allgemein als Ausdruck des Organischen, des Gefühls, des Erlebens, der Seele (im Gegensatz zu Geist und Intellekt), der Ganzheit an - der Rhythmus ward damit geradezu zum Symbol einer neuen Welt- und Lebensanschauung 4 ). Der neue Rhythmusbegriff wurde teilweise als so irrational aufgefaßt, daß er ins Unfaßbare und Unbeweisbare zu ent gleiten drohte. Dieser Gefahr ist auch Kurth nicht ganz entgangen. Für ihn ist in der Musik die Bewegung, insbesondere die melodische Be wegung das Primäre, in dieses kann nun stärker oder schwächer ein rhythmischer Betonungswechsel eindringen, den Kurth auf die körper liche Schrittbewegung bezieht 5 ). Abgesehen davon, daß die Annahme des Schrittmaßes als physiologische Grundlage für den Rhythmus zu beschränkt ist (zumindest müßte man auch Herzschlag und Atem rhythmus u. ä. berücksichtigen), tritt bei Kurth das Melodische derart in den Vordergrund, daß er jedes rhythmische und metrische Form prinzip in der Polyphonie J. S. Bachs leugnet: „Es ist falsch, eine be stimmte metrische Gruppenkonstruktion in ihr (Bachs linearer Be wegungsphase) zu suchen: sie ist überhaupt nicht nach irgendwelcher Abzirkelung der Ausmaße konstruiert, sondern ihr Formprinzip ist Entwicklung aus Bewegungsspannungen." Kurth leugnet nicht nur jedes System von Akzentschwerpunkten bei Bach (S. 153), sondern sieht sogar jede Betonung als „mehr aus der linearen Bewegungs-Spannung sich verdichtenden Nachdruck" denn als „scharf herausgehobenen Gegensatz zum unbetonten Taktteil" an (S. 192). Bachs Polyphonie sei eine ganz freie Ausspinnung, die allein dem melodischen Energie zug folge und keine Bindungen an ein rhythmisches Formprinzip kenne (S. 155). Bach bediene sich einer „freien Rhythmik", die zeitlich 0 Im ,,System der musikalischen Rhythmik und Metrik“, Leipzig 1903. 2 ) Grundlagen des linearen Kontrapunkts, 3. Aufl. Berlin 1922. 8) Kurth, S. 52 f. 4 ) Vgl. meinen Übersichtsbericht „Das Problem des Rhythmus in der neuesten Literatur (1930-1940)“ im Archiv für Sprach- und Stimmphysiologie 1941, S. 163-195. ß ) Kurth, S. 55.