Die Violinfonate ßWV 10S4 Von Rolf van Leyden (Davos) In der J.S.Bach zugeschriebenen, aber ohne Autornamen überlieferten Sonate in c-Moll für Violine und unbezifferten Baß, die in einer Neuausgabe im Ernst Reinhardt-Verlag in Basel vorliegt, ist ein Werk so bedeutenden und überdurchschnittlichen Inhalts erhalten geblieben, daß es gerechtfertigt er scheint, dasselbe an Hand der Quellen einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. i. Die Handschriften Ferdinand David, der Freund Mendelssohns und Schumanns, der bereits im Jahre 1872 von dieser Sonate eine Ausgabe veranstaltet hat, legte ihr die damals allein bekannte Handschrift der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden zugrunde, die bis zum zweiten Weltkrieg unter dem Zeichen 2R3,2 registriert war. Nach der Zerstörung der Bibliothek galt die Handschrift als Kriegsverlust, bis sie durch einen glücklichen Zufall im April 1951 in einer Kapsel unter völlig anderer Signatur wieder aufgefunden werden konnte. Sie umfaßt 15 Seiten in 4“ (nach der Photokopie 16 X 23,5 cm), deren sechste, bei Takt 90 beginnend, nur 1V2 Takte enthält, die auf der siebenten Seite nochmals erscheinen und dann regulär weitergeführt werden. Auf dem mit leer gelassenen Notensystemen bedeckten Teil der sechsten Seite befindet sich folgender, vermutlich aus dem siebenten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stam mender Bleistift-Vermerk in deutscher Schrift: [ob von Bach? Vgl. David, ..Hobe Schule des Violinspiels“ no.io.j David hält das Werk für echt! Die Noten dieser Handschrift sind eilig und mit solcher Vehemenz geschrie ben, daß sie oft durch das dünne Papier auf die Gegenseite durchgeschlagen sind, wodurch an einigen Stellen, wie z. B. in den Schlußtakcen des ersten Satzes, die Interpretation erschwert wird. Die Notenbalken zeigen besonders im ersten Adagio den kraftvoll geschwungenen Ductus deutscher mittel- und spätbarocker Schriften, wie er sich vor allem bei J. S. Bach, aber auch bei Johann Gottfried Walter und bereits bei Dietrich Buxtehude findet. An den Buchstaben, den Schlüsseln, den Zahlen der Takteinheiten, den Pausenzeichen usw. läßt sich erkennen, daß diese Handschrift keinesfalls von Bach oder einem Angehörigen seiner Familie stammt. Daß sie aber noch der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angehört, erweist sich, abgesehen von dem er wähnten spätbarocken Schwung der Notenbalken, an der dorischen Notie rung (es sind nur zwei \> vorgezeichnet), sowie an einem Kennzeichen in dem Bchelfsschluß des zweiten Satzes, das sich an der gleichen Stelle auch in der anderen erhaltenen Handschrift findet. Es ist hier nämlich in dem dritten Akkord g f d” h" auffallenderweise vor dem f ein b gesetzt, die ältere Form der Auflösung (des vorhergehenden fis), während das h” des gleichen