Die Harmonik J. S. Bachs - eine funktionsanalytische Studie Von Jörgen Jersild (Kopenhagen) In der Zeit um 1700 dürfte der endgültige Durchbruch der Dur- und Molltonali tät und -harmonik erfolgt sein. Funktionell bedingte Akkordfortschreitungen hatten damals bereits eine ansehnliche Tradition hinter sich, die für gewisse Progressionsmuster bis in die Frührenaissance zurückverfolgt werden kann. Am Ende des 17. Jahrhunderts macht sich jedoch ein für die Entwicklung symptoma tischer Umstand geltend: die Ausweitung des Tonraums, die zu dem „geschlos senen“ Quintenzirkel führte und die Anwendung des vollen Spektrums der Akkordpositionen ermöglichte, Züge, die man als wesentliche Voraussetzungen für die voll entwickelte Funktionsharmonik auffassen muß. Die Mitteltontemperatur war ihrem ganzen Wesen nach eng mit den modalen Tonalitäten verknüpft. Ihre rein gestimmte 4/5-Terz beschränkte im Prinzip die modulatorische Bewegungsfreiheit und das akkordische Repertoire infolge der Einengung des Tonraums, dessen äußerste Grenze die Töne gis und es bildeten. Man betrachtete dieses schwebungsfreie, wohlklingende Intervall in dem Grade als eine conditio sine qua non, daß man, um expandierenden Tonalitätsansprü chen zu genügen, versuchsweise Klavierinstrumente mit Doppeltasten für gis-as und dis-es herstellte, soweit man sich nicht mit dem „Wolf“ abfand. 1 Werckmeisters Schrift „Musicaliscbe Temperatur“ von 1691 muß als eine Art theoretischer Rationalisierung von Forderungen aufgefaßt werden, die sich in der Praxis längst zwingend aufgedrängt hatten. Nach einer Polemik gegen die Mitteltontemperatur macht Werckmeister vier Vorschläge für Temperaturen, die sich der gleichschwebenden Stimmung nähern, ohne sie doch ganz zu errei chen. Dasselbe gilt für Johann Georg Neidhardts „Beste und Leichteste Tempe ratur“ von 1706. Beide Verfasser sind sich darüber klar, daß die großen Terzen „in die Höhe schweben müssen“, wenn der Quintenzirkel geschlossen werden soll. Bei Werckmeister findet sich ein „Canon circularis“, mit dem man die Temperatur auf ihr Vermögen hin prüfen kann, den Rundgang durch den Quin tenzirkel zu gestatten. In Matthesons Generalbaßschule von 1719 finden sich ähnliche Kontrollmethoden, u. a. ein „Prob-Stück“: eine Sequenz, die nach zwölf fallenden Quinten zur Ausgangstonart f-Moll zurückführt. 2 Die Aktualität des Problems geht auch aus einem Passus in dem Bach-Ne krolog von 1754 hervor, zu dessen Verfassern Carl Philipp Emanuel Bach und der Bach-Schüler Johann Friedrich Agricola gehören: „Die Clavicymbale wußte er, in der Stimmung, so rein und richtig zu temperiren, daß alle Tonarten schön 1 Zu diesen sogenannten enharmonischen Instrumenten vgl. W. Dupont, Geschichte der mu sikalischen Temperatur, Nördlingen 1935» S. 47#- Vgl. auch J. M. Barbour, Tuning and Temperament. New York 1972, insbesondere den Abschnitt From Theory to Practice, mit einer Untersuchung der Akzidentalienpraxis im 16. und 17. Jahrhundert. 2 Näheres bei Dupont, a. a. O., Abschnitt Durchdringen der gleich schwebenden Temperatur, S.67 ff.