„Jetzt noch, Schwester Helene? Es ist doch schon stockdunkel draußen. Der Herr befindet sich sicher nicht mehr in der Kaserne. Wissen Sie denn überhaupt, wie er heißt und wo er privatim wohnt?“ „Schwester Luise hat sich seinen Namen und seine Adresse aufgeschrieben. Er wohnt in Treptow, das habe ich behalten.“ „Um Himmels willen, Schwester Helene!“, entsetzt sich die Oberin. „Sie können doch von dem Herrn Stabs arzt unmöglich verlangen, daß er bei dieser Kälte, bei Schnee und Eis zu nachtschlafender Zeit durch ganz Berlin von Treptow hierher zur Ziegelstraße kommt, nur um eine höchst unsichere Sache auszuprobieren? — Ueber- legen Sie mal, Schwester.“ „Doch, Frau Oberin“, verteidigt sie sich, „ich bin über zeugt davon, der Herr kommt sofort, weil er auf einen besonderen Fall wartet. — Der Franz vom Hausmeister hat dienstfrei, er will gern hinfahren. Er nimmt sich eine Droschke, ich habe schon alles mit ihm abgemacht. — Bitte, sagen Sie ja! Die kleine Friedel ist das einzige Kind. Und in vier Tagen haben wir Weihnachten, Frau Oberin.“ Diese blickt eine lange Sekunde prüfend in das fle hende Gesicht ihrer Schwester Helene. Schließlich nickt sie: „Jawohl, Schwester. Sie haben recht. Wir müssen tun, was menschenmöglich ist. Ich bin einverstanden.“ Mit einem hastig geflüsterten Dank huscht die Schwe ster zur Tür hinaus. — * Das Gespräch wurde am 20. Dezember 1891 in der Chirurgischen Klinik der Universität Berlin geführt. Ihr Chef war der berühmte Ernst von Bergmann, der Arzt Kaiser Friedrichs III. Damals wurden alle Diphtherie kranken wegen des meist notwendigen Luftröhren schnittes, Tracheotomie genannt, zum Chirurgen ge bracht. Der Eingriff war die „ultima ratio“ gegen den Würger der Kinder. Doch selbst die Kunst eines Berg mann konnte hier oft nicht mehr helfen. Zwei Stunden oder deren drei nach der Unterhaltung zwischen Oberin und Stationsschwester präsentiert der Posten an der Kaserne des 2. Garderegiments zu Fuß in