01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.01.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-01-04
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990104017
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- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899010401
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- LDP: Zeitungen
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-01
- Tag1899-01-04
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Ein Theil der Presse allerdings sieht unsere auswärtige Politik auf lickten NuhmeSbahnen einher ziehen, aber im Ganzen und Großen ist das Beste, was ihr nachgerühmt wird, die Abkehr von früheren Fehlern. In der Tbat erscheint die Bilanz auch des abgelaufenen Jahres, nickt so günstig, um die Posaunenstöße und die Vertrauens kundgebungen der Osficiösen zu rechtfertigen. Ist es zu billigen, daß Deutschland sein nach Kreta ent sandtes Kriegsschiff zurückgezogen bat und aus der Reihe der über das Schicksal der Insel weiter verhandelnden Mäckte auSgeschieden ist, so wäre dieser Schritt dock gewiß weniger auffällig gewesen, wenn nicht vorher die deutsche Regierung gegenüber dein türkisch- grieckischen Conflict eine von den Interessen deS Reiches im Osten nicht geforderte führende Stellung eingenommen hätte. Ob die Orientreise des Kaisers deu Sultan über die ungefähr in die gleiche Zeit fallende Berufung eines Sohnes des besiegten Königs von Griechenland an die Spitze Kretas binweggetröstet bat, bleibt trotz der vom Nach folger der Kalifen gezeigten Freigebigkeit fraglich. Mit dem Zurücktieben vom kretischen Handel darf die im Jabre 1898 offenbar bewerkstelligte Annäherung Deutschlands an England insoweit verglichen werden, als auch diese Wendung in einem anderen Lickte erschiene, wenn ihr nickt — eS ist gerade zwei Jahre her — daS Telegramm an den Präsidenten von Transvaal vorausgegangen wäre. Wie wir mit Großbritannien stehen und welches insbesondere der Inhalt des deutsch-englischen Afrika-Abkommens ist, weiß man in Deutschland nickt. Jedenfalls würde man eS bei unS auch ohne Annäherung und Vertrag mit dieser Mackt als ein richtiges Verhalten beurtbeilt haben, daß Deutschland nichts zur Linderung der Faschoda-Sckmerzen Frank reichs beigetragen hat. Von der Gestaltung unserer Be ziehungen zu Rußland ist nicht mehr zu sagen, als daß nn verflossenen Jahre jedenfalls die Herstellung eines intimeren Verhältnisses des Zarenreiches zu Oesterreich stattgefunden bat, welche letztgenannte Macht ihrerseits auf die Bekundung des ungeschwächten Fortbestandes deS Dreibundes nicht mehr das berkömmlicke Gewicht legte. Die durch daS Auf treten des Grafen Thun und deS Handelsministers Dipauli entstandene Erregung zittert in osficiösen Organen beider durch Vertrag verbündeten Reiche trotz deS von den Monarchen geführten Briefwechsels noch immer nach. WaS den gleich falls in den Schluß des Jahres gefallenen Austausch von Handschreiben zwischen dem deutschen Kaiser und dem Zaren anlangt, so ist darüber nur bekannt, daß der Kaiser von Rußland wie Franz Josef von Wilhelm II. zu einer Antwort veranlaßt worden ist. Die Be hauptung, der deutsche Kaiser habe in Petersburg ge wisse Wirkungen seiner Orientreise beseitige» wollen, ist bis zur Stunde unbestätigt geblieben. Unser Verbältniß zu Italien bat durch äußere Störungen der Freundschaft mit der anderen Dreibundmacht keine Veränderung er fahren und braucht auck durch den zwischen dem Königreich und der französischen Republik im Laufe der Jahre nach langem Wirtschaftskriege geschlossenen Handelsvertrag ebenso wenig wie durch die soeben in der Neujahrsansprache deS französischen Botschafters in Rom hervorgekehrte Liebe zu Italien berührt zu werden. Wie im Faschoda - Streite, so bat Deutschland auch während des spanisch-amerikanischen Krieges und der ihm folgenden Pariser Verhandlungen volle Neutraliiät bewabrt und damit die Grundlosigkeit der anläßlich des Kampfes um die Flottenverstärkuug in Deutschland laut ge wordenen, wenn auch Wohl nicht überall ernstlich gebegten Besorgnisse wegen einer uferlosen Weltpolitik dargelban. Der Krieg und mehr noch der Inhalt des Friedens vertrages berührten deutsche Interessen nahe genug. Dennoch bat die Regierung der Union die von der amerkanischen Hetzpresse augezweifelte volle Loyalität unserer Regierung rückhaltlos anerkennen müssen. Die deutsche „Weltpolitik" beschränkte sich im vergangenen Jahre auf Culturarbeiten in dem vor 1897 erworbenen Kiautschau und auf die Ent wickelung der Colonien, die zwar — namentlich was daS Verkehrswesen anlangt — nicht mit erwünschter Raschheit, aber ungestört vorschritt. Die deutsche Colonial- und überseeische Politik wurde, wenn auch zunächst nur überwiegend moralisch, unterstützt durck das im verflossenen Jahre vom Reichstage genehmigte Gesetz, welches die Bildung einer halbwegs dem Bedürfniß genügenden Flotte innerhalb sechs Jahren ermöglicht und den Ersatz unbrauchbar gewordener Schiffe vorsieht. Mit der Annahme einer Postdampfersubventionirungsvor- lage hat sich der Reichstag in der gleichen Richtung einer Förderung überseeischer Interessen bewegt. Eine Ausgestaltung und kleine Vermehrung deS Land- b e ereS, die von den Regierungen beantragt ist, steht noch bevor. Das Unternehmen ruft weniger Opposition hervor, als je vorder eine Militairvorlage. Herr Eugen Nickter hält eS zwar nicht für ausgeschlossen, daß die vom Lande gezeigte Ruhe „Stille vor dem Sturme" sei, aber da der Wind aus dem Sacke dieses „Politikers" kommen mußte, so ist nichts zu be sorgen. ES ist ein gutes Zeichen, daß die Versuche, bei LandesvertheidigungSfragen die Parteileidenschaften zu entflammen» in Deutschland immer weniger Boden finden. Und ein Symptom fortgeschrittener politischer Erziehung kann auch darin gefunden werden, daß der sogenannte Ab rüstungsantrag deS Zaren — gemacht vier Wochen nach dem Tode des Fürsten BiSmarck und in einem Augen blick, der Rußland selbst inmitten umfassender Rüstungen sieht, — von der deutschen Nation mit ebensoviel Küble als Respect ausgenommen worden ist. Wenn es auf der Conferenz, die der Vorschlag nach sich ziehen wird, gelingen sollte, die englischen Tum-Dumgeschosse zu verfebmen und verwandte Bestrebungen durchzusctzen, so würde den deulscken Erwartungen vollauf entsprochen sein. Mit ähnlicher Resignation, wenn auch mit größerem Bedauern über die voraussichtlich geringen Ergeb nisse sieht man bei unS den Beschlüssen der nach der Er mordung der Kaiserin Elisabeth von Oesterreich nach Nom einberusenen Anarchistenconferenz entgegen. Ehe der alte Reichstag, der erste, der auf eine fünf jährige Lebensdauer zurückblicken konnte, seinem natürlichen Ende verfiel, beschloß er noch eine lange vergebens ersehnte Reform, die deS MilitairstrafverfahrenS. Durch sie hat das Reich auch eine bessere Rechtssicherheit für die Ange hörigen des HeereS, eine gewisse Ergänzung der Reichseinheit erlangt; die noch nicht gesetzlich geregelte Art der Vertretung Bayerns beim obersten MilitairgerichtSbofe gebt ihrer günstigen Lösung entgegen. Die Erneuerung deS Reichstags durch die Wahlen vom l6. Juni und die des preußischen Ab geordnetenhauses durch die Wahlen vom 28. October haben die innerpolitische Lage unverändert gelassen. Ein schwer verständlicher Sammlungsruf der Regierung, wenig glück lich in einem Schreiben des Grafen Posadowsky wiederholt, verhallte wirkungslos. Die dem Centrum die Rolle der ausschlaggebenden Partei zuweisende Zusammensetzung des Reichstags blieb die alte. Nur die Polen und die Antisemiten erlitten beträchtliche Verluste, während die Socialvrmokratie einen, ihren Hoffnungen und Rcnommagen allerdings weitaus nickt entsprechenden, Zu wachs erhielt. Auch daS preußische Abgeordnetenhaus zeigt die gewohnte Physiognomie. Die erste Lesung des Etats, die als einzige Leistung deS neuen Reichstag hinter ihm liegt, hat eS bestätigt, daß er nicht geändert worden ist. Von den Regierung sverhältnissen könnte dasselbe gesagt werden, wenn nicht die Zurückdrängung der ministeriellen Verantwortlichkeit weitere Fortschritte gemacht hätte. Die Namen Lippe und Oeynhausen be zeichnen für dieses Jahr die Gipfel dieser verbängniß- schwangeren Entwickelung, für die der echten FreimutheS entbehrenden Vertretung des Volkes im Reiche und in Preußen ein gut Theil der Verantwortung zusällt. Wie es scheint, trägt der Wohlstand verbreitende und Neichthümer bildende Aufschwung der Industrie zur Verstärkung der Gleichgiltigkeit gegen die Cardinalfrage unseres politischen Lebens bei. Um so unerfreulicher werden sich aber auch die staatlichen Verhältnisse gestalten, wenn, wie wohl unausbleiblich, ein wirthschaftlicher Rückschritt erfolgt. Zumal da weitere Bolkskreise, die im Handwerk, im Kleinhandel und in der Landwirthschaft ihre Nahrung suchen, an dem Aufschwünge nicht participiren. Doch bat sich, Dank guten Ernten und höheren Preisen, auch die Lag« der Landwirthschaft gebessert, WaS ein erfreuliches Abflauen der geschäfts- und sportagrarischen Bewegung mit sich bringt. Von den „großen Mitteln" ist nicht mehr die Rede und auch im Handwerk hat die Erfüllung des Wunsches nach einer Zwangsorganisation wenigstens daS Gute gehabt, daß die Ueberschätzung staatlicher Eingriffe in das Erwerbsleben zurück- zulretcn begann. Lismarck über Oesterreich. „Das neue Jahrhundert", unabhängige Wochenschrift für daS deutsche Volk (Köln, Verlag von Friedrich Werth), setzt in seiner neuesten Nummer die Veröffentlichung der bisher noch ungedruckten Gespräche BiSmarck'S mit Lothar- Bucker fort, die sick diesmal um Oesterreich drehen und des Interessanten eine reiche Fülle bieten. Wir heben folgende Aeußerungcn hervor, welche sich mit Möglichkeiten einer hoffentlich entlegenen Zukunft befassen: Kaiser Franz Joseph hat eben immer seine Ruhe haben wollen, Ruhe im Lande; er hat, als er älter geworden ist, den für seinen besten Freund angesehen, der ihm die Lage am rosigsten gemalt hat. So ist er denn schließlich an die Polen gekommen. Aber Oesterreich ist kein Karpfen, den man mit polnischer Sauce servireu kann. Der Grund, auS welchem man in Oesterreich die Polen so streichelt, ist ein doppelter. Einmal will man für den Fall eines Krieges mit Rußland sich die Sympathie der russischen Polen sichern, sie sollen immer sehen, um wie viel besser es ihre Stammesgenossen in Galizien haben. Ob man dabei nicht auch an unsere polnischen Unterthanen denkt, will ich dahingestellt sein lassen. Sodann ist eS die Beich toäterpartei am Wiener Hose, die mit den Polen, die ja Katholiken erster Elasse sind, besonder- sympathisirt. Diese Partei ist mächtiger, als man glaubt, und daß sie im Bunde mit den Polen fortwährend gegen Oesterreichs Freundschaft zu uns intriguirt, ist mir lange bekannt. Vorläufig hat sie noch keine Erfolge zu ver zeichnen, aber im Laufe der Zeit wird vielleicht doch der stete Tropfen den Stein hohlen. Sie hat auch schon den Plan gefaßt, Galizien selbstständig zu machen, so eine Art österreichische Secundogenitur dort zu errichten. Tas deutsche Element in Oester reich würde ja dadurch gekräftigt werden und die Polen könnten nicht mehr, wie so oft der Fall gewesen, bei wichtigen Abstim mungen das Zünglein der Waage bilden. Allein andererseits ist zu bedenken, daß mit einem selstständigen Galizien »in ganz uncontrolir- barrr Heerd für großpolnische Umtriebe gebildet würde, der, wenn auch nicht eine ernste Gefahr, so doch eine Quelle steter Unruhen wäre. DaS wäre freilich für Rußland schlimmer al- für uns! Dir Deutschen in Oesterreich verkomme» unter der Last ihrer idealen Vorzüge. Man nannte die Deutschen im Allgemeinen früher da- Volk der Denker, ein Wort, das recht hübsch klingt, besonder« wenn man nicht weiß, mit welchem mitleidigen Lächeln diese» Wort aus gesprochen wurde. ES hieß in Wahrheit soviel alS: da- Volk der unpraktischen Leute, der Träumer, die über ihren idealen Hirn- gespinnsten den Boden des Thatsächlichea unter den Füßen ver lieren, die ihre Nase zu den Wolken aufrichteo und dabei über jeden Stein stolpern, der ihnen im Wege liegt oder von Anderen hingeworsen wird. Wir im deutschen Reich haben uns da- ein wenig abgewöhnt — ich glaube, daß ich dazu beigetragen habe, wenigstens auf dem Gebiete der äußern Politik. Aber in Oester reich herrscht bei den Deutschen noch ganz der alte Zustand- Denen kann daS Wasser bis an die Kehle gehen, da schreien sie noch nicht, sondern^ erst, wenn es ihnen bis in den Mund läuft. Dann ist es aber in der Regel zu spät. Die Schlamperei, wie man eS in Wien nennt, dir hat sich von La aus über da ¬ ganze Reich verbreitet — und bei den Deutschen am allermeisten. Die Herren von der „Veruneinigten»Linken", die nie eine recht vereinigte gewesen ist, sehen Sie sich sie nur an, sie erinnern mich immer an eine Volksbelustigung auf einem Jahrmarkt oder der gleichen, die ich in meiner Jugend mit ansah. Ta stand ein Mann mit einer langen Stange, an die Würstchen gebunden waren, von einem Haufen Kinder umgeben. Bald hierhin, bald dorthin senkte er die Stange, die Kinder sprangen nach den Würstchen, aber nur mit dem Munde durften sie zuschnappen. So machen es die öster reichischen Minister mit den deutschliberalen Abgeordneten, nur daß an der Stange keine Würstchen, sondern Ministerporteseuilles hängeu. Sie schnappen alle danach, ganz wenige ausgenommen, aber die meisten kriegen nichts. Und doch schnappen sie immer wieder zu und drängen sich um den Mann mit der Stange. Sehen Sie, Bucher, das ist ein Stückchen Realismus, aber kein schönes. Tie Deutschen im Lande aber — die stecken so in ihrem Idealismus, daß sie sich immer und immer wieder den Bauch mit Phrasen voll stopfen lassen und nicht merken, wie die schlaueren Slawen ihnen Len Boden unter den Füßen abgraben. Es ist ein Jammer, und am schlimmsten, daß man nichts dabei thun kann, daß Einem die Hände gebunden sind; denn wenn wir Jedem, der sich in uusere Angelegenheiten mischen will, ein „Hände weg!" zurusen zu dürfen beanspruchen, so können wir auch Anderen dieses Recht nicht ab streiten. „Freilich", fügt Bismarck nach einer Pause gedanken voll hinzu, „es könnte eine Zeit kommen, in der di« Macht der Verhältnisse uns zwingt, jenes Princip zu verlaßen. Aber der Anlaß dazu müßte vou Oesterreich ausgeheu, nicht von uns!" Ein Punct wird bei Beurtheilung der politischen Lage in Oester reich gewöhnlich übersehen, so wichtig rr ist, ein Punct, in dem sie sich von der Situation bei uns wesentlich unterscheidet. Bei uns besteht der schwierigste Theil der Aufgabe agitirender Abgeordneten ost darin, ihre Zuhörer erst „warm zu kriegen", in Oesterreich ist es umgekehrt die Zuhörerschaft, die den Abgeordneten einheizt und sie zu energischerem Tempo zwingt. Bei uns spornt der Reiter den Gaul, in Oesterreich geht das Pferd mit dem Reiter durch. Man kann sich darüber freilich nicht wundern; selbst dem Geduldigsten muß schließlich die Galle überlaufen, wenn er fort während mit seinem sauer Verdienten dazu beitragen soll, jrinen Feinden das Sitzpolster weicher zu machen .... Ojficiell geht uns ja die Sache nichts an und darf uns nicht- angehen, aber es sind unsere Stammesgenossen, es ist ein tüchtiges, kerniges Volk, da« da systematisch zu Grunde gerichtet wird um eines Hausens von Natiönchen willen, von denen kein« einzige gezeigt hat, daß sie eine Culturmijsion zu erfüllen vermag — oder haben vielleicht die Hussiten eine Culturmijsion vollbracht, als sie alle benachbarten Gebiete mit Mord und Brand überzogen, als sie mit die Veranlassung zum dreißigjährigen Kriege gaben, der, vom nationalen Standpunkt aus betrachtet, das größte Unglück war, das Deutschland je betroffen hat? Neia, diese Völker sollen erst einmal beweisen, was sie zu leisten im Stande sind, »he man sie Denen vorzieht, die seit vielen Jahrhunderten da« Haus Habsburg ausrechterhalten haben gegen äußere und innere Feinde! Es ist nicht allein schwarzer Undank, den man ihnen erzeigt, sondern mehr noch, es ist eine Dumm- heit ersten Range-, es ist eia politischer Selbstmord, den man begeht, indem man sich in nicht« so geschäftig zeigt, al- darin, die festesten Säulen de« Throne« zu uutrrminiren. . . . Dumm sein darf rin Privatmann kaum, aber dumme Minister zu haben und ihre Dummheit nicht zu erkennen, ist da« größte Unglück, das einen Fürsten treffen kann. . . . Andrassy war ein Mensch mit klarem Kopf und warmem Herzen, aber nachher ist eS immer mehr bergab gegangen, und wenn es so weiter geht, dann kommen noch Premierminister in Oesterreich zum Vorschein, die so dumm sind, daß sie gar nicht einmal wissen, daß sie dumni sind — armeS Oesterreich, ich glaube, deine Tage sind gezählt, nud wenn wir es auch nicht mehr erleben wrrdeu, daß der große Krach stattfindet, kommen wird er — vielleicht noch eher, als man glaubt! Wenn in Oesterreich ein neues Ministerium gebildet werden soll, so fällt mir immer das Wort »in, das »inst eia oberschlesischcr Fsuilletsir. Neue Dramen. Die Tragödie „Herostrat" von Ludwig Fulda (Stuttgart 1899), Verlag der I. G. Cotta'schen Buchhand lung, Nachfolger hat, wie wir bereits berichtet haben, am Berliner Hoftheater einen schönen Erfolg davongetragen. Ludwig Fulva wird von Vielen den Jüngstdeutschen zu gerechnet, dock er gehört nicht zu den Jüngstbeutschen stricterer Observanz. Er dichtet sogar Monologe; im „Talisman" gewinnen dieselben eine ansehnliche Länge; im „Herostrat" sind sie kur^atbmiger, doch sie stehen hier bisweilen an ent scheidender Stelle und müssen einen Aktschluß tragen. Und Fulda dichtet sogar ein Trauerspiel in Versen und wählt einen antiken Stoff. Da« ist wenig „jüngstdeutsch" und erinnert an die poetischen Lebensgewohnheiten unserer klassischen Zeit, mindesten» an da« Vorbild Grillparzer'-. „Herostrat", der Held de- Drama-, ist der Zer störer de- weltberühmten Tempel- der Artemis in EphesoS. Durch diese unerhörte Tbat wollte er sich Ruhm erwerben, sich einen großen Namen machen, e« war eine That de- Größenwahn» — und man könnte glauben, daß ein Dramatiker, der diesen antiken Stoff wählt, vielleicht dem Anarchismus der Gegenwart habe einen Spiegel vor halten wollen. Doch daS ist bei Fulda nicht der Fall, auf ein so einfaches Motiv ist die Tbat seine» Herostral nickt zurückzuführen; eS ist aleichsam ein Bündel von Motiven, au» denen sie herauswachst; Liebe und Eifersucht spielen dabei eine ebenso große Rolle, wie Rubmesvurft. Der Serlenarzt wird diese Motive, die zur geistigen Zerrüttung, der Mutter der unseligen That, führten, wohl zu unter scheiden wissen; der Dramatiker hätte vielleicht besser daran gethan, die Tbat nicht aus einem solchen Wurzelgeflecht, londern aus einer einzigen starken und wuchtigen Pfahlwurzel emporwacksen zu lassen. Herostrat ist im Drama Fulda'S ein Schüler deS Bildhauers HegeciaS, der ein Hüter der Baulichkeiten deS Tempels ist, sie ausfstckt und stützt und Handel treibt mit kleinen Bildchen, die er in seiner Werk statt anfertigen läßt. Der geschickteste seiner Arbeiter ist Herostrat, der wie kein anderer in trefflichen Tbongebilven daS Bild der Göttin nachformt; doch sein Ebrgeiz geht darüber hinaus und er soll nicht unbefriedigt bleiben. Das Holzbild der Artemis im Tempel erhält einen Sprung; Herostrat wird auserseben, daö Bild zurecht zu flicken; doch er schlägt vor, statt dessen eia neue- Göttinnenbilo auS Gold und Elfenbein zu schaffen — und in der Tbat wird ihm diese Arbeit übergeben. Doch der kunstfreundliche Stadtrath Metrodoros svill ganz sicher gehen; er ladet einen jungen namhaften Bildhauer aus Athen, Paxiteles, nach EphesoS und auch diesem wird der gleiche Auftrag. So wird gleichsam eine Concurrenz ausgeschrieben; die beiden Künstler treten al« gleichberechtigte Preisbewerber auf. Praxiteles ist rin leicht lebiger Athener, auch stl seiner Kunst auSgebend auf Harmonie und Schönheit, Herostral, ein in sich gekehrter, brütender Geist, ist mehr auf daS Ausdrucksvolle und Gewaltige bedacht. Doch sie sind nicht Nebenbuhler in der Kunst allein; sie sind e» auch in der Liebe. Herostrat liebt seit langen Jahre» d«S HegeciaS Enkelkind Klytia; auch diese ist ihm bold, sie beklagt sich nur darüber, daß seine Kunst ihm mebr gilt al- ihre Liebe. Da tritt der junge Athener in ihr Leben, rr sieht sie und ist entzückt von ihrer Schönheit; er sieht in ihr da- l Modell zu seiner Artemis; er fühlt sich leidenschaftlich zu ihr I hingezogen und weckt in ihr das gleiche Gefühl; sie giebt sich I dazu hin, ihm als Modell zu sitzen, und noch mehr — auf einem einsamen Spaziergang giebt sie sich ganz ihm hin. Vorher noch eine wilde Eifersuchtsscene zwischen den beiden Bildhauern — Herostrat dringt mit dem Dolch auf den Nebenbuhler ein. Doch Klytia, die sich vorher für Praxiteles erklärt hat, wirft sich zwischen Bride. So hat der Dichter di« Karlen gemischt; man sieht aber noch nicht, wie der große dramatische Trumpf, der Brand des Tempels, ausschlagen wird. Einen Finger zeig dafür giebt uns allerdings der Monolog deS Herostrat, mit dem der dritte Act schließt: Artemis, Herrscherin, lichtumstrahlte, Du wirst halten, was Du versprochen, Bist kein wankelmüthiges Weib. Räche den Treubrnch, räche Dich selbst! Äieb mir Kraft, Dich zu verherrlichen, sie z« bestrafen, Gieb mir Ruhm, glücklosen Ruhm! Spende mir Leben Ueber des Leben- Elend hinaus. Im vierten Act ermuthigt der Oberpriester Euprithe- den Herostrat, da» Bild seine« Nebenbuhler- zu zertrümmern. Ihm ist Praxiteles ein verhaßter Fremdling, dessen Werk mit weichlicher Schönheit den Sinnen schmeichelt, statt daS Volk zu schauernder Ehrfurcht zurückzugewöbnen, und den Boden untergräbt, auf dem sie fußen. Herostrat greift zum Hammer, er dringt auf daS Bild ein, wirft den Vorhang zurück; dock er wird überwältigt von dem Anblick: „Ich wollt' e« zer trümmern", sagt rr zur Mutter, „und uun zertrümmert eS mich." Und all mein Wirken versinkt vor ihm ü» Staub. ES hastet in meinen Augen ewig, ewig. Und statt de- Fremdling- Bild zu zerstören, zerstört er sein eigene«, doch rr will gern auf jeden Ruhm verzichten, wenn Klytia ihm ihre Liebe schenkt. Sie kann e« nickt, ihr Herz gehört dem Fremdling. Soll rr deshalb den Tempel der Artemis in Brand stecken? fragt man sich. Und in der That, die- erscheint als das letzte entscheidende Motiv. Durch einen snltv mvrtulo, wie er sich in dem Gedankcnsprunge der Irrsinnigen zeigt, macht er auf einmal die Göttin ver antwortlich für Klytia's Treubruck. Vertheilt die große, waltend« Güttin So ihre Gaben? Und ick, ich blöder Narr, Hab' ihrer Gerechtigkeit vertraut, auch sie Mit hundertfältiger tieferer Inbrunst Geliebt, alS er! An ihre Verherrlichung Setzt' ich mein Leben, mir schien siir sie kein Bildniß Erhaben genug! Er aber, er hat mit Recht Ihr deine Gestalt verlieh«; ein Weib nur ist sie, So falsch und treulos und gleißnerijch wie Du. Fluch ihr! Sie hat mich geprellt, mich um das Glück Arglistig betrogen. Rache! Rache! Und zu diesem Motiv der Rache, die sür den Verstand der Verständigen etwas Schwerbegreifliches hat, gesellt sich dann erst der einleuchtendere Größenwahn: Dein täuschender Prunk soll eine Fackel werden, Di« meinen Name grell erleuchtet Durch die Jahrhunderte hi»I Nun kennt rr den Weg in die Jahrhunderte. Er steigt mit der Fackel in den Tempel und al« der kehre Bau in Flammen steht, da stürzt er hervor, die Fackel in wildem Triumphe schwingend und rühmt sich seiner gewaltigen That. Diese Scenen sind jedenfalls vou dramatischer und thea tralischer Wirkung — Schade, daß der Molivirung der große einheitliche Zug fehlt. Herostrat wird zum Tode verortheilt; Klytia aber, welche Praxiteles nach Athen begleiten will, wird von diesem in Stick gelassen; er macht unter diese« Capitel seine« LebenSdramaS einen Strich und segelt nach Athen ab. Klytia stürzt sich iuS Meer. Di« Dichtung enthält viel Sinnige- und FeinpoetischeS; wen»
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