Geschichte als Sozialpsychologie 517 Gegenständen der Forschung nähern. Leider steht noch immer eine Untersuchung darüber aus, in wie hohem Maße es auch natur wissenschaftliches Mittel ist, z. B. in der Mathematik, deren For meln namentlich von ihren Entdeckern oft verstanden worden sind, ehe sie eine Erklärung, nämlich einen Beweis dafür hatten. Ebenso verstehen wir das Verhalten einer Pflanze, eines niederen Tieres, wir suchen es zu verstehen, um es damit und mit andern Mitteln schließlich sogar zu erklären. Je verwickelter die Dinge werden, desto größere unerklärte Reste sind an ihnen, die notgedrungen nur „verstanden“ bleiben. Am verwickeltesten liegen die Dinge im Gei stigen der Gemeinschaften — im Individualgeistigen liegen sie oft viel einfacher als in der Natur, als z. B. am physischen Organismus — und darum spielt hier das Verstehen eine besonders große Rolle, aber grundsätzlich ist es überall, auch hier, nur eine Dienerin des Erklärens, eine Wegbereiterin zu ihm. Es ist das unvergeßliche Verdienst des Mannes, der unserm Jubilar auf seinem Lehrstuhl voranging, daß er diese Tatsachen und Be ziehungen sah und sich an ihnen wissenschaftlich erotisierte (im Sinne Platons zu reden), wenn ihm auch zur geradlinig sich ein bohrenden Problemstellung und ihrer restlosen Lösung das Naturell nicht gegeben war. Er lebt und wirkt anonym viel stärker weiter, als meist erkannt und (leider) oft zugestanden wird. Die Lebens schwelle, die sein Nachfolger überschreitet, führt ins Jahrzehnt der höchsten Objektivität, die eine Vorstufe jener Weisheit ist, welche wir dem nächsten Dezennium, jenseits von siebenzig, unterstellen. Es mag im Geiste solcher Objektivität sein, an diesem Feiertage die Leistung seines Vorgängers, von der Geschichtswissenschaft und Geschichtschreibung, Charakterologie und Sozialpsychologie noch viel zu empfangen und zu verkraften haben, wieder einmal nam haft zu machen.