74 Erhard Frommhold 0 Alice Rühle-Gerstel 1894-1943 Ein Bericht Wolfgang Kutz kommt 1990 in seiner Dissertationsschrift über den »Erziehungsgedanken in der marxistischen Individualpsychologie«, den er an drei »Hauptvertretern« - Man£s Sperber, Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel - verifiziert, zu dem Schluß, den er als Prä misse voraussetzt, daß für alle drei Theoretiker und für deren therapeutische Praxen jeweils die Biographie eine »prägende Kraft« gewesen sei. Nun ist bei den bekannt abenteuerlichen Lebenswegen dieser drei Persönlichkeiten kaum eine andere Folgerung möglich. Zumal ihre Abenteuer nicht allein von der wissenschaftlichen Literatur, also von ihren Beiträgen zur Individualpsychologie, zum Marxismus und zur hohen und niederen Politik bestimmt, sondern auch von gleichwertigen »Selbstreflexionen« begleitet worden sind, wie das Wolf gang Kutz bezeichnet. Es genügt, in dem enormen Gesamtwerk Man£s Sperbers auf seine dreiteilige Autobiographie und seine Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean« hinzu weisen; für Otto Rühle wiederum wäre die Lebenslinie, die ihm die deutsche Sozialdemo kratie zwischen 1907 und 1914 zeichnet, die Zwischenspiele im Spartakusbund, in der D und KAPD, in der Allgemeinen Arbeiter-Union Einheitsorganisation (AAUE) schon genügend »Selbstreflexion«. Nach seiner Hinwendung zur Individualpsychologie bestätigt er sich das sogar wörtlich: »Das Material der Geschichte bietet sich uns dar, drängt sich uns entgegen, füllt unsere Hände, verlangt von uns Formung, Gestaltung, Schöpfung«. lce Ruhle-Gerstel hat sich nicht der absoluten Strenge ihres Mannes untergeordnet. Sie hat gleichfalls einen autobiographischen Roman geschrieben »Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit«, sie hat ein Tagebuch geführt, Gedichte geschrieben, ja angetrieben durch ihre finanziellen Nöte im Exil hat sie Johann Strauß’ Operette »Die Fledermaus« und Friedrich Smetanas Oper »Die verkaufte Braut« ins Spanische übersetzt; zwei Romane und zahlreiche andere Manuskripte sind, zurückgelassen in Prag, verlorengegangen. Folgt man den Kommentaren Stephen S. Kalmars zu den aus dem Nachlaß veröffentlichten Schriften Alice Rühle-Gerstels »Kein Gedicht für Trotzki. Tagebuchaufzeichnungen aus Mexico« (1979) oder zu dem genannten Roman (1984), dann wäre dieser Nachlaß eine der wichtigsten Quellen zur Emigration Dresdner Bürger und darüber hinaus wohl auch eine Dokumentation zur Geistesgeschichte in dieser Stadt, denn im nahen Buchholz- Friedewald, im Haus Gomlichstraße Nr. 16b, hatte nach 1921 für Alice Rühle-Gerstel das Leben seinen hohen Sinn bekommen. Dresden wäre also Ausgangspunkt einer lokalen