6 mal her«. Das waren unsere Lieder. Klangen sie schlecht in den Ohren des Fähnleinführers, hieß es »Lied aus! Im Laufschritt!« Es gab Sonnwendfeiern mit »Fahnentempeln« und »Feu ersprüchen« (»Vater und Mutter, ihr sollt es wissen: Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!«). Spürte niemand, wie peinlich und verkrampft dieses Pathos war? »Wir beenden den Dienst und grüßen Führer, Volk und Vaterland mit einem dreifachen Sieg-Heil« oder, etwas seltener, darum eindrucksvoller: »Sieg-Heil, Kampf-Heil, Sturm- Heil«. Doch keiner der zuschauenden Erwachsenen wandte sich kopfschüttelnd ab. Oder bemerkten wir es nicht bei diesen zwischen Stumpfsinn und Begeisterung vollzogenen Ein übungen des Archaischen? Es sollte bald über Europa kommen, auch mit uns. Die Welt einer Ilse Frischmann, die Weisheit eines Victor Klemperer, die Leiden der Opfer blieben uns verschlossen. - So kam das Ende als ein unbegreifbarer Zusammenbruch: in Frank reich, in Polen oder Ostpreußen, in Kriegsgefangenenlagern, die sich für viele nie mehr, für manche erst 1949 öffneten; in Dresdner Lazaretten, über denen die Hölle zusammenschlug, als man sich schon geborgen fühlte. Das alles ist nun Erfahrung, Erinnerung und Vergangenheit, und es ist zugleich lebendig wie am ersten Tag. Dokumentarfilme, alte Wochenschauen machen den Abgrund sichtbar, in dem wir gelebt haben, dem wir entkommen sind. - Was denken sich die Enkel, wenn sie die Generation ihrer Großväter sehen: als schreiende, singende, uniformierte Kinder, als heldisch-verbissen dreinschauende junge Soldaten, als schluchzende Kriegsgefangene? Befrei ung war ein Wort, das selten gebraucht wurde, weil von den Siegern und ihren Helfern zu oft benutzt. Und doch enthält es Wahrheit: Wieviel Brutalität, Herrschsucht, Arroganz kann sich heute nur noch gedrosselt entfalten; auch politisch motivierte Kriminalität wird geahndet, während sie damals, staatlich sanktioniert und befohlen, sich in Warschau, Ora- dour, Lidice oder Auschwitz ins Ungeheuerliche auswuchs. Die unberatenen Lehrlinge der Verbrecher und Mörder von einst, die Brandflaschen gegen Asylantenheime werfen, unter liegen weitgehend einer gesellschaftlichen Ächtung. - Was wäre aus uns allen geworden, wenn damals jene Verruchten gesiegt hätten? Es ist nur als Alptraum, nicht als Kästnersche Satire denkbar! Erinnerung und Geschichte, das ist auch jener strahlende Frühling 1945 über der toten Stadt; weiß in seinen blühenden Obstbäumen, seinen quellenden Wolken an einem Him mel, zu dem man nun ohne Furcht aufschauen konnte. Weiß das demütige Pathos der Fah nen, die, meist Bettlaken, aus den Fenstern wehten (»Ich hab’ mich ergeben ...«). Wenige Wochen zuvor hingen dort oft noch die Hakenkreuzfahnen. (»Unsre Mauern brechen, unsre Herzen nicht«.) Es war eine Zeit der Ungewißheiten, der Ratlosigkeit, der Verzweiflung, der Tränen, der Stumpfheit. Monate der Furcht und der Demütigungen und Stunden des Höffens, des Aufatmens, des Nachdenkens. Die begrabenen und die unbegrabenen Toten, und jene Unzähligen, die noch sterben sollten an diesem Krieg. Eine Zeitenwende und der Beginn einer Lebenswende, deren Bedeutung erst die Gelassenheit der Rückschau ganz er kennen läßt.