62 Impetus mit einer genauen Milieukenntnis verband. So war das Versdrama »Bürger und Zar« (1853 zuerst in Karlsruhe durch Eduard Devrient, 1854 in Dresden aufgeführt) angesiedelt in der Zeit Peter des Großen. Demgegenüber fällt sein einziges Stück mit jüdischer Problematik »Die Osternacht« (1858) ab, in dem er sich erneut mit der uralten Lüge auseinandersetzte, die Juden würden zu ihrem Passahfest Christenblut opfern. Wolfsohn setzte - ganz im Sinne des von ihm hochverehrten Lessing - auf Toleranz und Versöhnung, um so mehr, als er selbst die antisemitischen Signale in der Gesellschaft nicht übersehen konnte. Deshalb war die Forderung nach völliger rechtlicher Gleichstellung der Juden wohl auch der Tenor seines letzten großen Aufsatzes über »Die Juden in Rußland« (1865). Das größte Projekt der Dresdner Zeit war die Gründung eines umfassenden Informations organs über Rußlands geistiges Leben. Nach langwierigen Verhandlungen mit dem russischen Kultusministerium gelang es ihm, eine verhältnismäßig geringe Anschubfinanzierung von insgesamt 9 000 Rubeln zu erhalten. Wolfsohn wollte mit Hilfe der »Russischen Revue« (seit 1862, seit 1864 »Nordische Revue«) von Dresden aus einem literatur- und kulturinteressierten deutschen Publikum den Zugang zu den neuesten Leistungen russischer Literatur in erstklas sigen Übersetzungen und fundierten Übersichten und Berichten ermöglichen und Einsichten in die russische geistige Entwicklung als eines integralen Bestandteils der europäischen Kultur vermitteln. Aber bei aller Qualität dieser journalistischen Arbeit (»ein gut und fein redigiertes Journal« 71 , notierte Fontane) blieb das Ergebnis mäßig, auch in kommerzieller Beziehung, nicht zuletzt wegen Wolfsohns zu umständlicher Arbeitsweise. So erschien die Zeitschrift un regelmäßig, was der Abonnentenzahl nicht förderlich sein konnte. Zudem erkrankte Wolfsohn an Leberkrebs, der seinen frühen Tod herbeiführte. Überschaut man Wolfsohns Lebenswerk, so verdankt ihm die deutsche Kulturlandschaft vor allem bedeutende Übersetzungsleistungen wie das »Igorlied« und herausragende Prosaüber tragungen aus Puschkin, Gogol, Herzen, Dostojewski und Turgenjew. Über allem aber steht seine Überzeugung, »daß reine Menschlichkeit in jedem Jahrhundert hat ringen und siegen können«. 81 Anmerkungen 11 Die Reden am Grabe Dr. Wolfsohns. In Constitu 51 Fontane, S. 187 tionelle Zeitung, Dresden Nr. 192 vom 20.8.1865 61 Ebenda, S. 188 21 Zit. in Fontane, S. 232 7) Ebenda, S. 50 31 Ebenda, S. 190 8) W. Wolfsohn, Dramatische Werke. 3. Bd.: Die 41 Diss., S. 91 Osternacht. Dresden 1859, S. XV Vorliegende Darstellung stützt sich vor allem auf die grundlegenden Arbeiten von Christa Lehmann- Schultze (Berlin), besonders auf ihre Dissertation »Aus Wilhelm Wolfiohns Leben und Wirken als Vermittler russischer Literatur in Deutschland (1840-1865)«, Berlin 1963 (abgekürzt Diss.) und ihre Edition »Theodor Fontanes Briefwechsel mit Wilhelm Wolfiohn«, Berlin—Weimar 1988 (abgekürzt Fontane).