DER KULT DES INFANTILEN Von ALDOUS HUXLEY I n allen großen Kulturen der Vergangenheit galt es als unumstößlicher Grundsatz, daß den Interessen und Werten der Erwachsenen der Vor rang vor denen der Kinder gebühre. Sokrates und Lucretius, Dante und Chaucer, Shakespeare, Voltaire und Goethe — alle repräsentativen Männer der schöpferischen Geschichtsepochen — waren reife Menschen und schufen reife Werke. Mit dem XIX. Jahrhundert aber setzte ein Wandel ein. Sowohl in der Welt der Tatsachen als auch in der Welt der Dichtung begannen unter den Erwachsenen Kinder in den besten Jahren, ja sogar graubärtige Säuglinge aufzutauchen. Der morbide Kult des Infantilen hatte eingesetzt. Ein frühes Symptom findet sich in dem Satz von Wordsworth: „Der Knabe ist der Vater des Mannes“ — einer Behauptung, durch die der Wert der Unreife auf Kosten der Reife gesteigert werden sollte. Allen früheren Schriftstellern galt stets und unanzweifelbar der Mann für des Kindes Vater — mit ändern Worten, die Interessen und Werte des reifen Alters standen ihnen höher als die der Kindheit. Mit Charles Dickens werden die Symptome noch ernster. Dickens fällt das zweifelhafte Verdienst zu, eine ganz neue Art von Helden erfunden zu haben. Für ihn war der höchste Typus des Menschen nicht der heroische Erwachsene, sondern der Säugling mittleren Alters — Pickwick und seinesgleichen, die sind die typischen Dickensischen Heiligen. Objektiv betrachtet und abgesehen von der Aura ergötzlicher Lächerlichkeit, mit der Dickens sie umgibt, sind diese kahl köpfigen alten Windelnässer die abstoßendsten Mißgeburten. Ungefähr um dieselbe Zeit wie Pickwick entstand auch die entsetzliche Ausgeburt der Phantasie des XIX. Jahrhunderts, die Baudelaire als „La jeune Fille Assassin de l’Art“ — das kunstmordende junge Mädchen — beschreibt. Durch mehr als zwei Generationen beherrschte dieses Geschöpf die europäische und besonders die angelsächsische Kultur. Es verlangte, daß alle Literatur durch mädchenhafte Zurückhaltung charakterisiert zu werden habe, daß kein Mensch etwas schreiben dürfe, das er nicht seiner zwölf jährigen Tochter zu lesen geben könnte. Sogar heute noch ist diese Mör derin der Kunst und aller erwachsenen Werte eine Macht. Hat sie nicht neulich erst einen hervorragenden amerikanischen Senator zu der Äußerung inspiriert, er ließe sein Kind lieber Morphinistin werden, als die Werke von D. H. Lawrence lesen, und die Tugend einer einzigen kleinen Sechzehn jährigen sei mehr wert als alle Bücher, die je in die Vereinigten Staaten kamen. Das Pantheon des Infantilismus wurde im XX. Jahrhundert durch eine neue und eindrucksvolle Schöpfung bereichert, die Gestalt Peter Pans, des Knaben, der nicht erwachsen werden will. Mit Barrie, seinem geistigen 2 593