Bachs Stellung in der Leipziger Kulturpolitik seiner Zeit 19 sich in erster Linie für das öffentliche Wirken des Kantors, allenfalls in zweiter Linie für sein Wirken im geschlossenen Kreis der Schule. Hätte die Kantoren partei nach einer erfolgreichen öffentlichen Probe - und am Erfolg der Probe war beim berühmtesten Musiker Deutschlands nicht zu zweifeln - die Wahl, die in der Öffentlichkeit als schon abgemacht und unproblematisch galt, mit Hinweis auf die wissenschaftlichen Unterrichtsverpflichtungen des Kantors, auf die Information verhindert oder auch nur deswegen Schwierigkeiten gemacht - sie hätte dafür in dieser Öffentlichkeit kaum auf Verständnis rechnen können. Und wenn der Regierende Bürgermeister Steger gehofft haben sollte, Telemann würde vor der Eröffnung der Wahl den Revers unterzeichnen, der den Kompro mißvorschlag der Kantorenpartei fixierte, so wurde er im voraus darüber be lehrt, daß Telemann zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Amt gar nicht anneh men, also auch den Revers nicht unterzeichnen werde, und das mit Hinweis auf die juristisch unanfechtbare Argumentation, daß der Kandidat zur Annahme des neuen Amtes erst nach der Entlassung aus dem alten Amt imstande sei. Überdies war durch die Mitteilung 4 jedem Gerede, das nach der Abreise Tele- manns in der Öffentlichkeit hätte entstehen oder in Umlauf gebracht werden können, die Spitze genommen. Durch die den amtlichen Handlungen vorgrei fende Informationspolitik der Kapellmeisterpartei war die Kantorenpartei für diese amtlichen Handlungen praktisch handlungsunfähig gemacht. Auch dieses Vorgehen, das er als inkorrekt empfinden mußte, mag für Platz ein Grund ge wesen sein, der entscheidenden Sitzung des Engen Rats fernzubleiben. Die Mitteilungen 2 und 4 hatten aber auch noch ein anderes Ziel: nämlich Hamburg. Die Stadt wurde über das vorbehaltlose Interesse Leipzigs an Tele mann unterrichtet, auf sein Entlassungsgesuch vorbereitet, zugleich aber seines korrekten Verhaltens - Annahme in Leipzig erst nach Entlassung in Ham burg - versichert. Insofern diente die Mitteilung 4 auch dem Schutz Telemanns gegenüber seinem gegenwärtigen Dienstherrn. Am 3. September, dem 20. oder 19. Tag nach seiner Abreise von Leipzig, schrieb Telemann sein Entlassungsgesuch an den Hamburger Senat. 23 Er macht zwei Gründe geltend: Der erste spricht für Leipzig, nämlich die „gute Beschaffen heit“ der Station, also die höheren Einkünfte, die er dort zu erwarten hat und auf die zu sehen er zur Versorgung seiner Familie verpflichtet ist; der zweite spricht gegen Hamburg, nämlich die „hiesigen für mich anitzo nicht favorable- scheinenden Conjuncturen“, womit er aktuell den Widerstand der Oberalten (der 15 Ältesten der Erbgesessenen Bürgerschaft 24 ) gegen seine öffentlichen Konzerte meint. Denn die Oberalten hatten am 17. Juli 1722 - also um die Zeit, als Telemann die Einladung, zur Probe nach Leipzig zu kommen, er hielt - einen Antrag an den Senat gestellt, mit dem sie eine für Samstag, den 18. Juli vorgesehene „Aufführung der beiden in Frankfurt komponierten Früh lingskantaten (auf Texte von Barthold Hinrich Brockes) im Hof von Holland um 16 Uhr“ zu unterbinden trachteten: „Weil der hiesige Cantor Telemann aber mahl vor Geld in einem öffentlichen Wirtshause seine Music aufzuführen 23 G. Ph. Telemann, Briefwechsel, hrsg. von H. Große u. H. R. Jung, Leipzig 1972, S. 30 f., auch W. Menke, Das Vokalwerk Georg Philipp Telemann’s, Kassel 1942. Anh. S. 72 f. 24 Dazu E. Kleßmann, Telemann in Hamburg, Hamburg 1980, S. 39 u. die Anm. S. 169 f.