DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFTLEITUNG: ERNST PRECZANG, BERLIN SW6i, DREIBUNDSTR. 9 ZEHNTES HEFT« OKTOBER 1928 Haupttypen neuzeitlicher Staatsauffassung D Mit den im vorigen gefchilderten Haupttypen: dem konfervativ-maditpolitifchen, dem liberal- individualiftifdien und dem fozialiftifdi-kommu- niflifchen, find genau genommen die reinpolitifch möglichen Staatsformen oder -lehren erfchöpft. Daneben aber exiftiert noch eine Theorie, welche den Staat überhaupt verwirft, eine völlig ftaal- lofe Gefellfchaft als ihr Endziel anfieht: der An archismus. Die Anarchie, aus dem griechifchen anarchia gleich Herrfchaftslofigkeit, bezeichnet, flreng verltanden, einen Zuftand, in dem jeder fein eigener Herr ift, niemand unter einer Zwangsherrfchaft lieht. Ein folcher reiner Naturzufland wird fchon im Altertum von der Phantalie derVölker in eine er dichtete Urzeit, ein goldenes oder paradielifches Zeitalter verlegt. Er keimt auch bei einzelnen griechifchen Denkern, wie bei dem Hedoniker (Vertreter des Prinzips der Lull) Arillipp, der niemandes Herr und niemandes Knecht fein wollte, und dem Stoiker (Angehörigen der Schule der Stoa) Zenon, auf, der alle Menfchen für feine Volksgenoffen und Mitbürger erklärte und für diefes fein Weltllaatsideal weder Tempel noch Gymnafien noch Gerichtshöfe noch Geld nötig zu haben behauptete, fondern den Gott Eros, alfo die Liebe, als den bellen Mitarbeiter an der Erhaltung des Staates bezeichnete. Wo mit dann grundfätzlich auch das Chriftentum übereinllimmen müßte, für das im Prinzip der Geill und die Liebe, nicht Recht und Gefetz mit Staatszwang, beltimmend lind. Aber diefe Folgerungen fcheinen nur einzelne ketzerifche Sekten des Mittelalters und in neuefter Zeit LeoTollloi (Gehe auch weiter hinten in diefem Auffatz) gezogen zu haben. In Wirklichkeit hat fich die Kirche zwar ftets für unpolitifch erklärt, aber in der Regel klug mit jeder politifchen Ver- faffung abzufinden verllanden. In der Neuzeit tauchen erll bei unfern Klaflikern einzelne anarchillifch zu nennende Ideen auf: fo in Lefßngs Gefprächen für Freimaurer (1778 bis 1780) der Gedanke: Ordnung muß doch auch ohne Regierung belieben können, wenn jeder einzelne lieh felblt zu regieren weiß; ebenfo in fei nem merkwürdigen kurzen »Gefpräch über die Soldaten und Mönche« und in feiner Gellalt des Derwifchs Al-Hafi im Nathan*. So in Sdiillers genialem Räuber Karl Moor. Ja, man könnte audi Kants bereits gefchildertes Staatsideal »von der größten menfchlichen Freiheit nach Gefetzen, weldie machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer bellehen kann« im an- archiltifchen Sinne auslegen, obgleich der Phi- lofoph felber es nicht getan hat. Und auch die Jugendarbeit Wilhelm von Humboldts mit ihrem extremen Individualismus reicht nahe an ihn heran, wie denn der Anarchismus, flreng verllanden, die äußerlle Konfequenz nicht etwa des Sozialismus, fondern des Individualismus clarflellt. Aber das erlle Syftem eines freilidi nicht extre men Anarchismus hat doch, foviel wir wiffen, erll der Engländer William Godwin in feiner zweibändigen »Unterfuchung über llaatliche Gerechtigkeit« (1793) entworfen, in der er Ab- fchaffung aller Regierung und, unter Wegfall von Recht, Staat und Privateigentum, ein bloß gefelliges Zufammenleben in kleinen Gefell- fchaften befürwortet, indeffen doch dieMöglich- keitvonGefchworenengerichtenund»National- verfammlungen« für den Ausnahmefall von Streitigkeiten offenhält. Den äußerllen denk baren, ebendeshalb jedoch nicht haltbaren Fall diefes allein konfequenten individualitlifchen Anarchismus vertritt Max Stirner in feinem * Vgl. K. Vorländer, Die Philofophie untrer Klaffiker. Dietz, 1923. S. 51-55- 59