37 Norbert Göller In ländlicher Idylle — der Dresdner Vieh- und Schlachthof Wie man sich dem Dresdner Vieh- und Schlachthof auch nähert, ob von der Pieschner Allee oder von der Magdeburger Straße über die Flutrinnenbrücke her, jedesmal empfängt einen das malerisch-harmonische Bild einer Siedlung in offener Landschaft. Der Eingangsbereich öffnet sich mit zweigeschossigen Wohnbauten mit freundlichen Mansardendächern und Läden in der Erdgeschoßzone. Sie leiten in einen dorfähnlichen Anger über, der von zwei monumen talen Gebäuden flankiert wird, linkerhand der Gasthof und rechterhand das Verwaltungs gebäude. Den optischen Mittelpunkt bildet vor dem Pförtnerhäuschen ein Brunnen mit einem Bronzestier. Es fehlt lediglich an Menschen, die jedoch früher zu den Markttagen oft von weither zahlreich erschienen. Die Illusion ist perfekt. Wer erwartet, daß sich hinter diesen Mauern ein 36 Hektar großes Fabrikgelände verbirgt, das zur Jahrhundertwende zu den modernsten Europas gezählt wurde? Kein hochgereckter Schlot, das Symbol des aufbrechenden Industriezeitalters; nur ein 50 Meter hoher, verkleideter Turm, der eher einem barocken Kirch turm ähnelt, dominiert das Gelände. Diese Verwandlung geht auf Stadtbaurat Hans J. Erlwein (1872-1914) zurück, der den Dresdner Vieh- und Schlachthof von 1906 bis 1910 erbaute. Er war gerade 33 Jahre alt, als er in Dresden mit seinem Amtsantritt 1905 die Planung übernahm. Er war kein Neuling auf die sem Gebiet; schon in seiner Bamberger Amtszeit errichtete er in den Jahren 1901 bis 1903 einen Schlachthof, der von der Presse als »Bild neuzeitlichen Fortschritts« bejubelt wurde, »mit dem Bamberg nun in der ersten Reihe der Großstädte marschiert«. Ein Neuerer, der durchaus mit Stadtbauräten seiner Zeit von Ruf wie Ludwig Hofmann in Berlin vergleichbar ist - aber kein Utopist. An den Industriebauten um die Jahrhundertwende läßt sich besonders gut das Bemühen um eine neue Baukunst ablesen. Deshalb ist der Dresdner Vieh- und Schlachthof im Ostragehege, dessen Gebäude heute größtenteils leerstehen und dem Verfall preisgegeben sind, besonders geeignet, die Stellung Erlweins als Architekt und Städteplaner in seiner Zeit zu erkunden. Gleichzeitig soll das Bewußtsein für den baugeschichtlichen Wert des Architekturensembles geschärft werden, um dessen Nutzung als Kongreß- und Ausstellungszentrum schon seit Jah ren gerungen wird. Die ersten Überlegungen zum Bau eines zentralen Schlachthofes in Dresden gehen weit zurück. Bereits 1863 stellte ein Gutachten der Dresdner Fleischerinnung fest, daß die über die Stadt verstreuten kleineren Schlachthöfe hinsichtlich ihrer Kapazität und den hygienischen