70 Gerhard Glaser Das Große Ostragehege — Gedanken zur Bewahrung und Reaktivierung Nur etwa 1200 m vom Theaterplatz, vom innersten Zentrum der Stadt entfernt, ist das Ostra gehege im Bewußtsein der Dresdner Bürger - und der Gäste der Stadt erst recht - ein Stück unbekanntes Land. Hat man die Marienbrücke unterquert, die optische Schranke des Stadt zentrums nach Westen, und wendet man sich über die Magdeburger Straße weiter stadtaus wärts, erlebt man zur Rechten einen Hügelzug, unvermittelt aus dem ebenen Gelände aufstei gend, der nicht nur unbekannt, der auch unbetretbar ist. Er ist ein Stück zerstörte, zusammen geschüttete Stadt, und man ahnt, daß man von ihm aus vielleicht zurückblicken könnte auf ihr wiedererbautes Zentrum. Weil das »Betreten verboten« ist, wendet man sich hinter der Marienbrücke besser in die von vier Baumreihen gesäumte Pieschener Allee, kommt aber bald an eine Gabelung und wird unschlüssig, ob man geradeaus die Allee verfolgen, die scheinbar ins Nirgendwo mündet, oder links in den Schlachthofring einschwenken soll. Letzterer führt zu einem städtebaulichen Gefüge von lebendiger Ordnung, und man wird sich bewußt: Hier hatte einmal jemand — vor langer Zeit — eine glückliche Hand. Aber nur wenige Schritte weiter ist rechts alles zu Ende, Wildwuchs und Chaos beherrschen das Feld. Die Treuhand hatte keine glückliche Hand. Unschlüssig ist man, ob es überhaupt lohnt, weiterzugehen. Immerhin liegen zur Linken schöne offene Wiesenflächen, die die Elbe bei Hochwasser aufnehmen und die Stadt vor größerem Schaden bewahren. Einem Versatzstück gleich, aus dem Nichts beginnend und scheinbar im Nichts endend, schneidet schräg in diese Wiesen abermals eine Allee ein, der man aus Neugier geneigt ist zu folgen. Plötzlich schaut man über den Fluß, den man hier gar nicht vermutet, auf ein leichtes Hochufer und in dessen Zen trum — die Allee führt darauf zu — auf ein Palais, die Fenster verschlagen, der einst gestaltete barocke Park verwildert - ein Zustand, wie er nie bestand seit Erbauung von Schloß Übigau 1725, bis zu dem Zeitpunkt, da die Treuhand Palais und Garten in ihre treuhänderischen Hände nahm. Man vermag sich wenigstens an den Wiesen am Fluß zu erfreuen und folgt die sem stromauf. Plötzlich findet man sich am Ende jener vierreihigen Allee, fühlt sich in freier Landschaft als deren point de vue und blickt hinein in ein schier unendliches Blätterdach, an dessen Ende man die Stadt weiß, von der man kommt. Man fühlt, hier sind noch immer städte bauliche Werte, verschüttet fast, und nichts kommt mehr recht zusammen. Wandert man unter dem Blätterdach nicht zurück, sondern nimmt man die Fähre nach Pie schen, erlebt man die Allee plötzlich als Rahmung des Flusses, eines großartigen Landschaftsvor dergrundes vor der türmereichen Silhouette des Zentrums der Stadt. Hier ist nichts verschüttet.