CRANACHS FRÜHZEIT J 47 2 geboren, also um ein Jahr jünger als Dürer, beginnt Lucas Cranach erst durch seinen etwa für die Jahre 1500 bis 1504 anzunehmenden Aufenthalt in Wien eine greifbare Gestalt der Kunstgeschichte zu werden. Wir wissen weder etwas über seine Ausbildung, noch kennen wir die Gründe, die ihn veranlaßt haben, von seiner oberfränkischen Vaterstadt Kronach nach Wien zu gehen; auch wird uns sein dortiger Aufenthalt durch kein anderes Dokument bezeugt als durch einige seiner Werke, die nirgendwo anders entstanden sein können als in Wien. Es sind keine Jugendwerke — die kennen wir nicht —, vielmehr Arbeiten eines im Alter von etwa 30 Jahren stehenden Künstlers, zum Teil zwar noch behaftet mit jenen Merkmalen, die wir so gern als die von Sturm und Drang bezeichnen, zum Teil aber von hoher Reife und gefestigter Selbständigkeit und im Hinblick auf die künstlerische Gesamtleistung der Zeit mit an erster Stelle zu nennen. Es sind Gemälde, einige Zeichnungen und Holzschnitte. Diese sind zwar nicht signiert, können aber, nachdem sie einmal als dem Frühwerk Cranachs zugehörig erkannt wur den, heute nicht mehr aus ihm weggedacht werden. Wo und durch wen Cranach mit der Kunst des Holzschnittes bekannt geworden ist, läßt sich nicht sagen. Seine Holzschnitte sind ebenso plötzlich da wie seine Gemälde. Mit einer Ausnahme ist ihr Thema die Passion Christi, also jenes Thema, das, wie etwa auch an Dürer und Grüne wald zu ersehen ist, die deutsche Kunst damals am stärksten bewegte. Die Berliner Kupferstich sammlung besitzt zwei Kreuzigungsdarstellungen, die seit langem als Frühwerke Cranachs aner kannt werden, zwar in manchem übereinstimmen, aber doch in einer Weise voneinander ab weichen, die die bedeutende Variationsmöglichkeit des Künstlers erkennen läßt. Das an spruchsvolle Format von etwa 40 cm Höhe und entsprechender Breite läßt an die Formate von Dürers „Apokalypse“ und „Großer Passion“ denken. Tafel 1 Die eine Kreuzigung (die noch in einem zweiten Exemplar bekannt ist) trägt in der rechten unteren Ecke ganz klein die Jahreszahl 150z und ist in einzelnen Motiven von dem wenige Jahre zuvor entstandenen entsprechenden Blatt der „Großen Passion“ Dürers abhängig. Dahin gehört be sonders die Stellung des Pferdes rechts und die Art, wie der Reiter auf ihm sitzt, kerzengerade, das linke Bein mit der durchgedrückten Wade in den Steigbügel stemmend, die Arme abge winkelt. Im übrigen tritt sogleich der große Unterschied zwischen den beiden Meistern hervor. Bei Dürer ist trotz der gedrängten Fülle der Komposition alles darauf angelegt, ihre Hauptteile klar gegeneinander abzugrenzen: der Kreuzesstamm scheidet als Symmetrieachse das Bildfeld senkrecht in zwei annähernd gleichmäßig gegeneinander abgewogene Hälften. Trotz allen Kon trasten und Spannungen wird diese Symmetrie festgehalten bis hinauf zu den Erscheinungen von 12