120 Gerhard von Keußler, technisch Unfertigen, wenn nicht Unfähigen dem Vorconcil fern zu halten. Keinesfalls wird man ungestraft den großen Fehler wieder holen können, den die katholische Kirche bei ihrer Choralreform während des Trientcr Concils begangen hat. Zwanzig Jahre lang, von Sitzung zu Sitzung, haben Unkundige, musiktechnisch unkundige Kleriker erwogen, welcherlei Purgatorium für ihre entheiligt heilige Tonkunst vorzuschreiben sei. Als dann endlich zwei Meister — Palestrina und Zoilo — den päpstlichen Auftrag der Vollsührung erhielten, wars mit der Arbeitslust bald vorbei; beide Meister schliefen über ihrer Arbeit ein lind mußten auch sonst versagen. Eine Er kenntnis: Die Vorschriften waren weder vom Geist der Musik ge zeugt noch auö dem Schoß der Gemeinde geboren. Damit nun heute die allnotwcndigc Reform unserer evangelischen Liturgie nicht wieder aus ein Concil mit halber Erfahrung angewiesen werde, muß der Meister und Träger des alltunlichen Vertrauens — wie dort Palestrina, so hier bei uns Bach — nicht ,nach' dem Concil, sondern ,vor' dem Concil daS verbindliche Wort erhalten. Und nicht .trotzdem' es 200 Jahre sind, die seit Bachs Niederschriften die Anwendbarkeit seiner Technik verschoben haben, soll Bach jetzt die Normen hergcben, sondern gerade ,wcil' es 200 Jahre des Wandels sind, des Wandels in Mode, Brauch und Stil. Mit diesem „Weil" ist zugleich gesagt, daß wir von allem Vorüber gehenden und geschichtlich Vorübcrgegangencn innerhalb der bachi- schen Diktion — etwa von seinen arienhaftcn Choralmelodien — ohne weiteres abschen können. Und so werden wir auch manch andere, als Brauch stationierte Mode der Zeit und Vorzeit Bachs schmerzlos ausschalten. Umgekehrt werden Kleriker und Musiker zusammen mit den Schmerzen und Wonnen der Schachtarbeit und Höhenluft all das Verbindliche herausarbeiten, was den evangelischen Musik stil in Bach und durch Bach ausmacht. Um auch hier nicht mit halben Erfahrungen zu hantieren, werden wir bei Bach — wie bei Luther, wie bei Paulus und überhaupt wie in der ganzen Bibel — Buchstabe und Geist nicht als Zwillinge betrachten. Bachs Buchstaben sind seine Notenköpfe. Diese Zeichen für die Wiedergabe seiner Tonaffekte sind sachlich-individuell und persönlich-generell. Das ist ihre Größe und zugleich das verfäng liche Kriterium, wenn man aus ihnen eine Richtschnur für allgültige Choralsätze Herstellen will.