Bach selbst hat uns keine harmonisch-neutralen vierstimmigen Choralsätze hinterlaffen, denn jeder seiner vierstimmigen Sätze gilt dem Text einer einzelnen bestimmten Strophe. Dagegen weisen seine 69 Choräle im Jeitzer Gesangbuch — Melodie und General baß — einen merklichen Beigeschmack von harmonischer Neutrali sierung auf; namentlich tut dies die Gruppe, wo Bach den Baß gänzlich unbeziffcrt gelaffen hat. Ersaßt man nun die technischen Normen, nach denen Bach die Mittelstimmen und den Baß bald diatonisch und gebrochen-figurativ bewegt, bald chromatisierend beengt, wobei er gelegentlich sogar die feste Melodie, den cantub lirmus, auslockert; ersaßt man die Normen, nach denen er seine wortillustricrenden Rhythmen, vor allem seine Synkopen und An- tecipationen meistert, und hat man endlich Bachs rein harmonisch illustratives Verfahren begriffen, nach dem Bach alle drei Unter stimmen zusammen, akkordisch geeint, den cantus ürmus färben oder untermalen läßt, — so weiß man auch technisch das Individuelle, Wortindividuelle, vom Generellen zu scheiden, vom Affektgenerellen, wo immer man für sämtliche Strophen des Liedes einen einzigen Tonsatz schaffen will. Über all solche Tccbniksragen wird sich das Vorconcil nicht zuletzt auch aus jener Literatur Aufschluß holen, die von Bachs Zeitgenossen stammt. Über 170 verschiedene, große und kleine Choralbücher sind zu Bachs Lebzeiten im Druck erschienen. Viele charakteristische Vorreden mit allerhand Kantorenästhetik. Auch an technischen Experimenten fehlt es nicht. So versucht der Züricher Johann Steiner, in seinem Gesangbuch von 1723, Tertmustcr zu schaffen, Moralien genannt. Jedem seiner drei und vierstimmigen Tonsätze wird ein Proformaterl unterlegt, das heißt: eine Strophe, deren Worte gar nicht gesungen werden wollen, sondern nur als Adaptionsmodell vorangestellt werden, üingckehrt, hat der Heidel berger Johann Spieß, in „Davids Harpfenspiel" und in der „Geist lichen Liebes-Posaune" 1745, viele Melodien in zwei und drei verschiedenen Harmonisierungen, mit zweifachem und dreifachem Baß, geboten. — Das Typische bei Bach ist, daß er dieselbe eine Melodie bei verschiedenen Texten ebenso oft verschieden harmonisierte. So schuf Bach für eine Reihe von Chorälen 5, 6 und 7 verschiedene Tonsätze; „Nun ruhen alle Wälder" erhielt deren 9, „O Haupt voll Blut und Wunden" — 10. Und weiter: Bei Bachs Art zu