Der Rhythmus bei Johann Sebastian Bach 117 aufgetaucht sind. E. Kurth hat auf die „komplementäre Rhythmik“ bei Bach hingewiesen, d. h. das Bestreben, möglichst wenig gleichzeitige Pausen in allen Stimmen auftreten zu lassen, dagegen die Pause einer Stimme durch die Bewegung einer anderen zu ergänzen, so daß ein fort gesetzter Bewegungsstrom im ganzen entsteht'). Etwas Ähnliches scheint Langer mit der Bezeichnung „neutrale Zone" zu meinen, und zwar bezogen auf ganze Takte und deren Schwerpunkte (S. 52ff.). Das Kenn zeichen der komplementären Rhythmik ist ein gleichmäßiges Fließen, eine durchgehende Bewegung in gleichen kleinen Notenwerten, die in größtem Gegensatz zu den bei Bach ebenso häufigen „Überlagerungen“ mehrerer Taktarten steht, auf deren Bedeutung im vorstehenden hinge wiesen wurde. Diese Überlagerungen mag man auch „Polyrhythmik“ nennen, ihre psychologische Wirkung ist jedenfalls die von „Kompli zierung“, „Stauung" oder „Spannung". Langer spricht in diesen Fällen von „rhythmischen Reibungen“ (S.48); seine Bezeichnung „Interferenz" scheint mir nicht auf die Überlagerungen anwendbar, denn unter Inter ferenz wird im allgemeinen nicht einfach das gleichzeitige Auftreten verschiedenartiger Bewegungskräfte verstanden, sondern deren wechsel seitige Ergänzung zu neuen, verschiedenartigen Erscheinungen (Wellen berg und Wellental verstärken sich oder heben sich auf). Von derartigen Vorgängen ist aber bei den rhythmischen Überlagerungen kaum die Rede. Daß Begriffe aus der Physik, wie Schwere, Gewicht, Stauung bei rhythmischen Fragen bedeutsam sind, dürfte außer Zweifel stehen; ent scheidend ist nur, daß alle derartigen Begriffe von einer psychologischen Seite her betrachtet werden müssen und sich nicht von den musikalischen „Tatsachen“, d.h. dem wirklich zu Hörenden entfernen dürfen. Dieser Gefahr scheinen die neueren Untersuchungsmethoden nicht immer zu entgehen, die aus derMusik auf ein ganz allgemeines „ Bewegungsgefühl“ zu schließen versuchen, wie esz.B. Gustav Becking * 2 ) und Wilhelm Heinitz 3 ) tun. Deren Methoden sind nur nach langer spezialisierter Übung anwendbar und verständlich — ihre Absicht ist es allerdings auch nicht, in das Wesen der Gestaltung eines musikalischen Kunstwerks ein zudringen, sondern die unbewußten (rassischen oder typologischen) Eigenarten seines Schöpfers nachzuweisen. So möge die vorstehende Untersuchung mit dazu beitragen, auf die bewußte künstlerische Ge staltung, die sich im Rhythmus kundtut, hinzuweisen und diesen Rhyth- Der lineare Kontrapunkt, S. 351 ff. 2) Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle. Augsburg 1928. s) Die Strukturprobleme in primitiver Musik. Hamburg 1931, ferner ,,Eine Homogenitäts- studie an Hans Sachsens Überlangton und Herimanns Salve regina“. Archiv für Musikfor schung 1937, H. 3, S. 257ff. Vgl. auch Archiv für Sprach- und Stimmheilkunde und angew. Phonetik Abt. 2, Bd. I, H. 4 (1937), S. 249.