DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFTLEITUNG: ERNST PRECZANG, BERLIN SW61, DREIBUNDSTRASSE 9 NUMMER 3 MÄRZ 1926 JOHANNES SCHÖNHERR / LEIPZIG DAS VOLKS EPOS UND DAS HÖFISCHE EPOS ie Spielleute hatten für ihre Dichtung ganz andre Ziele aufgeftellt, als jene im erften Auffatz (»Das Schiff« Num mer I) behandelten geift- lichen Dichter. Sie, die als Vorläufer der großen mittel- hochdeutfchen Epiker Hart mann von Aue, Wolfram von Efchenbach und Gottfried von Straßburg zu betrachten find, ver- fuchten als fahrende Gefellen mit phantaftifch aufgemachten Dichtungen alter Stoffe ihr Publi kum, das fie allerorten fanden, zu unterhalten und zu erheitern. Die prädhtigften diefer Spiel mannsepen find >König Rothen und ^Herzog Ernft*,in denen vonFrauenentführungen, bräut lichen Königstöchtern, Zwergen, Riefen und redendem Getier märchenhaft erzählt wird, ohne die Abficht, etwa für die Kirche und das Seelenheil der Zuhörer dabei beforgt zu fein. Was fich jedoch von der Dichtung diefer Sänger bis auf den heutigenTag erhaltenhat, find keine Perlen der Poefie. Erft als im 15. Jahrhundert diefe Spielleute wieder von »vornehmerem Ge blüt« waren und auch an Fürftenhöfen ihre Ge länge erfchallen durften, erhob fich die Dichtung allmählich wieder auf ein beachtenswertes Ni veau. Davon zeugen unfre Heldenfagen, vor allem jenes unvergängliche Epos, deffen Ent liehen wir vielleicht mehreren unbekannten Sängern verdanken: Das Nibelungenlied. Das gewaltige Drama der Siegfriedfage ift hier zu einem kunftvollen Ganzen zufammengefügt worden, mit einem erftaunlich gefchickten W il- len zum dramatifchen Aufbau und zur künftle- rifchen Steigerung. Auch das erft im Jahre 1815 in Wien aufgefundene große Volksepos >Gu- drun< gehört zu diefen Sagendichtungen. Im Gegenfatz zu dem Nibelungenlied wird in diefer Dichtung nichts Großes, Ungeheures, keine Graufamkeit und kein Verderben gefchildert; in liebevoller Ausmalung unzähliger Kleinig keiten, durch Vertiefung der Charaktere und manche reizende Erfindung rundet fich dem Dichter dennoch auch fein Werk zu einem Bild des Lebens und der Wirklichkeit. In feiner Wir kung erfcheint es als ein einziger Lobgefang auf die weibliche Treue, deren Urbild Gudrun ift. Je mehr fich das deutfche Rittertum als eine Nachahmung des franzöfifchen entwickelte, je weichlicher, fentimentaler und unnatürlicher wurde auch die Dichtung. Die konventionelle Moral diefes Rittertums fand ihren Spiegel in Geftalten und Handlungen der höfifchen Epen, die mit ihrer Gefühlsverwirrung, Galanterie, ihrem Liebesfpiel und vor allem mit ihrer weit herzigen Auffaffung der Beziehungen zwifchen den beiden Gefchlechtern heute uns recht ver wunderlich erfcheinen. Und doch ragen aus der Menge der damaligen Dichter drei Perfönlich- keiten auf, die einesteils durch ihre Formficher- heit, fließende Sprache, ihren Bilderreichtum und anderfeits durch ihre faft geniale Kraft uns packen, wie fie das Einzelgefchehen zum Allge meingültigen zu erheben vermögen. Der ältefte von ihnen, Hartmann von Aue, läßt in feinen Werken Erec und Iwein die Heldentaten von Rittern aufleben und ihre Minnedienfte um irgendeine geliebte Frau. Weniger erquicklich berühren die legendenhaften Stoffe feines »Ar men Heinrichs* und des >Gregorius auf dem Stein*, die in der Darftellung ekelerregender Krankheiten und ihrer Heilung durch das Opfer einer Jungfrau faft ein peinliches Gefühl hinter- laffen. Stärker und reiner ift die Wirkung da gegen von Wolfram von Efchenbachs >Parzival<, jenem Epos, deflen Idee fich in dem Goethifchen Wort zufammenfaffen läßt: »Die Gefinnung,