DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFTLEITUNG: ERNST PRECZANG, BERLIN SW6i, DREIBUNDSTRASSE 9 NUMMER 4 APRIL 1926 DR. P. MARTELL / BERLIN-JOHANNISTAL ZUR GESCHICHTE DES SCHRIFTWESENS S n der Kulturgefchichte der Menfdiheit nimmt das Schriftwefen wohl die hervor- ragendfte Stellung ein, bedingt als Träger des geiftigen Fortfehritts, der uns in einem jahrtaufendelangen Lauf zur Höhe ge führt hat. Wie fchwerfällig war dodi das Schriftwefen des Altertums! Es bediente Geh in weitem Umfange der Wachstafeln. Das waren Holztafeln mit einem Überguß von Wachs, in den man die Wörter mit einem ge eigneten Inftrument einritzte. Das Britifche Mufeum zu London befitzt zwei ganz roh gearbeitete Holztafeln, deren eine Seite einen fehr dünnen Überzug farblofen Wachfes aufweift. Der Text ftellt einige Verfe dar, und man nimmt an, daß es Geh um das Konzept buch eines Dichters handelt, das man ihm ins Grab gegeben hat. Im Jahre 1876 gelang es bei den Ausgrabungen des verfchütteten Pompeji, das Archiv eines Caecilius Jucundus aufzu decken, der öffentlicher Auktionator war, und von dem Geh hier mehr als hundert Urkunden vorfanden.Es handelt Geh fall ausfchließlichum lateinifch befchriebene Wachstafeln. Noch weit ins Mittelalter hinein bediente man Geh der Wachstafeln; ihre Verbreitung fdieint allge mein gewefen zu fein; nicht nur in ägyptifchen Gräbern hat man Wachstafeln gefunden, auch in Lübeck, Irland und in den Goldbergwerken Siebenbürgens traf man Ge an. Vielfach Gndet man Wachstafeln, die ihrem Charakter nach als Notizbücher dienten. Diefe Tafeln haben oft eine Verzierung in der Form von elfenbeiner nem Schnitzwerk; man trug diefe »Notizbücher« in ledernen Kapfeln am Gürtel. Im 14. und 15. Jahrhundert wurden die Wachstafeln viel zu Rechnungen oder Zinsregiftern verwendet; man ches ftädtifche Archiv unfrer altdeutfchen Städte legt hiervon Zeugnis ab. Noch größere Bedeu tung hatten diefe Tafeln als Schultafeln, die in diefer Form im 15. Jahrhundert noch viel be nutzt wurden. So macht eine Schulvorfchrift der Stadt Nürnberg vom Jahre 1485 den Knaben zur Vorfchrift, daß Ge fowohl morgens wie nach mittags ftets eine frifche Wachstafel zur Schule mitbringen. In England war es in früheren Jahr hunderten lange Zeit üblich, Rechnungen erft auf Wachstafeln zu fchreiben und von hier aus auf Pergament zu übertragen. Eine etwas be- fch werliche und umftändliche Buchführung. Kul- turgefchichtlich berühmt Gnd die Rechnungen der franzöGfchen Könige Ludwig IX. und Phi lipp III. und IV. Diefe mittelalterlichen Wachs tafeln, vorzüglich erhalten, beGnden Geh in Paris, Genf und Florenz. Mit am längften hat Geh der Brauch der Wachstafeln bei einigen Salzwerken erhalten, die Geh feit jeher als die nachhaltigften Verteidiger alter Sitten und Gebräuche erwie- fen haben. Hier Gnd es die bekannten Halloren, die SalzGeder von Halle an der Saale, welche die fogenannte Lehntafel (es war dies das Grundbuch für den Anteil des einzelnen an den Salzquellen) aus Wachs herftellten. Diefe Tafeln wurden dreifach angefertigt und unterVerfchluß gehalten, um Fälfchungen zu vermeiden. Es Gnd uns eine ganze Reihe folcher Halloren-Wachs tafeln erhalten. Der Gebrauch von Wachstafeln hat unter den Halloren bis zum Jahre 1783 be- ftanden, dann wurde er durch königliche Ver ordnung aufgehoben; die gleiche Sitte beftand auf dem Salzwerk zu Schwäbifch Hall bis zum Jahre 1812, bis auch hier der Staat durch Über nahme der Werke diefer Sitte ein Ende machte. Das letzte bekannt gewordene Beifpiel des Ge brauchs von Wachstafeln gehört dem J ahre 1860 an, wo Ge auf dem Fifchmarkt zu Rouen üblich waren. Die übriggebliebenen Fifche pflegte man ftets am Schluß zu verlteigern und dann das Ergebnis auf folche Wachstafeln einzutragen. Eine große kulturgefchichtliche Bedeutung im