DAS SCHIFF BEIBLATT DER TYPOGRAPHISCHEN MITTEILUNGEN SCHRIFT LEITUNG: ERNST PRECZANG, BERLIN SW6l, DREIBUNDSTRASSE 9 NUMMER 5 MAI 1926 JOHANNES SCHÖNHERR / LEIPZIG DER MIN Ihren Gipfelpunkt erreichte die ritterliche Poefie des 13. Jahrhunderts im Minnefang, der, auf franzöfifchem Einfluß beruhend, durch den Kult der Marienanbetung genügend vorbereitet, nun auch in deutfchen Landen als der dichterifche Ausdruck für eine alle Feffeln der Konvention fprengende V erehrung der verheirateten Frauen auftrat. Der Geilt der Liebe befeelte die Poefie wandernder Ritter, die, obwohl von adliger Her kunft, doch zumeift arm waren und an den Fürftenhöfenvon ihrer Kunft leben mußten. Auf den Burgen gehörten diefe Sänger zu den hoch verehrten und gern gefehenen Perfönlichkeiten, da fie alle Merkmale einer feinen Bildung von damals aufwiefen: meifterlichen Umgang mit Waffen und die Kunft des Gefanges. Unnötig ift es, zu erfpüren, inwieweit vielleicht dichterifche Phantafie oder die Wirklichkeit an dem Ent liehen der Minnedichtungen diefer Sänger be teiligt waren; denn das eine lieht zweifellos feil: diefe Ritter Händen zumeift als Vafallen im Dienft einer verheirateten Frau, für die zu kämp fen fie immer bereit waren, in Lied, Wort und Tat, ohne Bedenken gegen die aus folcher ge heimen und ungefetzlichen Liebe doch leicht entfpringenden Konflikte. Sicherlich war gerade das Geheimnisvolle, die ängftliche Spannung und Furcht vor fpähenden Augen, die fteteBereit- fchaft, um Leben und Ehre kämpfen zu müffen, waren Sorgen und Entbehrungen der Liebenden die Quelle zu lebendigen Motiven und Stoffen vollerMannigfaltigkeit, wie fie die Minnefänger erfehnten. Daß diefer Minnedienft, der von der geliebten Frau immer auch als letzten Lohn den Minnefold forderte, einen vielfach veredelnden Eindruck auf den gefellfchaftlichen Ton der Zeit hatte, ift wohl begreiflich; denn die Sittlichkeit diefer Poefie war doch der des Lebens unendlich N E S A N G überlegen, wenn fie betonte, daß eine gefetz- liche, ohne Herzensneigung gefchloffene Ehe eine Unfittlichkeit ift. Walter von derVogelweide wußte um diefe erhebenden Einwirkungen des Minnedienftes; denn er bekennt es mit großer Begeifterung: »Wer guten Weibes Minne hat, Der fcbämt lieh jeder Miffetat.« Groß ift die Zahl der Minnefänger, von deren Schickfalen zumeift fehr wenig bekannt ift, und auch die bedeutendften unter ihnen vermögen nicht mehr als ein rein literaturgefchichtliches Intereffe zu erwecken, da ihre Lieder zum großen Teil einen auffälligen Mangel an Vielgeftaltig- keit in Form und Inhalt aufzeigen. Immer wieder ftößt man auf die alte, durch die Wiederholung eintönig wirkende Melodie derLiebesfehnfucht, Liebeswonne, der Entfagung, Freude und Klage, ohne daß uns ein Ton oder Gedanke berührt, der charakteriftifch, individuell oder ungewöhn lich zu nennen wäre. Dies gilt fogar von dem Dichterkreis derer von Kürenberg, Reinmar von Hagenau, Dietmar von Aift, Heinrich von Mo- rungen und Friedrich von Haufen, die trotz der Schlichtheit ihrer Empfindungen, wie fie in ihren volksgemäßen Dichtungen zu klarem Ausdruck kommt, doch nicht von nachhaltiger und tiefer gehender Wirkung find. Gewaltig dagegen erhebt fich gegen diefe Mit- ftrebenden die männliche Erfcheinung Walters von der Vogelweide, der uns in der Gefamtheit feiner Lieder ein in feilen, markanten Zügen ge zeichnetes Spiegelbild feiner vollen Perfönlich- keit hinterlaffen hat. Aller Wahrfcheinlichkeit nach flammt er aus Tirol, von dem oberen der Vogelweidhöfe bei Bozen, feiner Herkunft nach einer vom niedrigen Adel, der Mitte 1198 am