i6 Richard Humphrey Zweierlei Revolution Die Industrialisierung Sachsens im Zeichen Großbritanniens (1790 bis 1860) Sieh Mutter! da ich staunend es vernommen, Wie sehr Britannien, Amerika gewonnen, Seit sie auf eisernen Geleisen ihre Waaren von Land zu Land, von Meer zu Meer gefahren - Da fühlt ich meine Wangen hoch erglühen! Ich ebnete mit eiligem Bemühen die Bahn, ich baute Dämme, Brücken, Stollen, und - siehst Du nun die Dampfgetriebe rollen? 11 Zugpferd Großbritannien, Jungfohlen Sachsen Als am Sonntag, dem 8. April 1839 - unter Begleitung von lokaldichterischen Dampfwolken wie den oben zitierten - die Leipzig—Dresdner Eisenbahn als erste deutsche Fernbahn ihre Jungfern fahrt feierte, wurde der Eröffnungszug von einer englischen Lokomotive gezogen, die sogar ein englischer Lokführer lenkte. Das erste sächsische Dampfroß dagegen, die von Prof. J. A. Schubert gebaute »Saxonia«, die ohnehin stark am englischen »Comet« angelehnt war, mußte - illegal - hinterherfahren. 1835 ist es dem ersten Dampfschiff im Königreich Sachsen nicht anders ergangen: Das zwar in Krippen gebaute Schiff kam nur mit einem in Hamburg eingebauten englischen Dampfantrieb voran. Für die Industrialisierung Sachsens besitzen diese beiden Ereignisse gerade zu Symbolcharakter. Als Sachsen den Aufbruch ins Industriezeitalter wagte, war die bereits voll zogene Industrielle Revolution in Großbritannien Vor- und Leitbild, ja oft im wortwörtlichen Sinne Motor und treibende Kraft. Den Sachsen - wie den Deutschen überhaupt - blieb lange nur die Rolle des verspäteten Nachzüglers. Vom Bobinet bis zum Webstuhl und von der Dreh bank bis zum Fabrikgebäude wurde importiert, ausspioniert, kopiert. Ohne Zweifel kann behaup tet werden, daß man sich in Sachsen »beim Übergang zur fabrikatorischen Herstellung an der englischen Fertigung« 2 ’ orientierte. Nicht von ungefähr titulierte man das werdende Industrie zentrum Chemnitz »Kleinmanchester«, und zahlreiche andere sächsische Ortschaften erhielten in den Jahren 1800 bis 1840 ein unverkennbar englisches Gepräge. Der Neuerfindung Sachsens als Industriestandort stand die Neuerfmdung Englands als »Werkstatt der Welt« Pate. Nur: Es wäre verkürzt, die Interaktion der beiden Länder bloß als einseitigen Lernprozeß zu bezeichnen. Als etwa der Leipziger Buchdruckergeselle Friedrich König für seine Erfindung