Peter-Georg Richter Zur Funktion von Mythen aus psychologischer Sicht Ich möchte mit einem kleinen Gedankenexperiment beginnen: Wenn Sie in der Welt unterwegs sind und gefragt werden, wo Sie herkommen, so werden Sie - als Dresdner Bürger — mit großer Wahrscheinlichkeit gern sagen: Ich komme aus Dresden. Wenn Sie in Kleinnaundorf oder in Freital wohnen, werden Sie wahrscheinlich betonen, daß dies in der Nähe von Dresden liegt. Möglicherweise antworten Sie auf die Frage nach Ihrer Herkunft auch: aus Deutschland, oder: ... aus Sachsen. Sicher sagen Sie aber nicht als Erstes: ... aus Europa. Wir wissen, daß Sie in Ihrer Antwort nicht nur Ihre (territoriale) Herkunft ausdrücken, son dern auch ihre (persönliche) Identität. Aus psychologischer Sicht werden unter anderem zwei For men der Identität unterschieden, die im Zusammenhang mit dem Thema von besonderer Bedeu tung sind: Die sogenannte soziale Identität und die Ortsidentität. Ich werde im Folgenden diese beiden Phänomene und ihre Funktion für den Menschen erläutern. Gleichzeitig will ich deut lich machen, welche Rolle dabei Mythen spielen können und dies exemplarisch an einigen weni gen Facetten des »Mythos Dresden« veranschaulichen. Zur sozialen Identität haben die Sozialpsychologen Tajfel und Turner (1986) eine Theorie ent wickelt, die Prozesse des Entstehens differenziert beschreibt und erklärt. Dort wird ein Prozeß der Mikrosozialisation beschrieben, der immer wieder abläuft, wenn Menschen in unterschiedliche Gruppen hineinwachsen, unterschiedliche Rollen übernehmen. Schmitt, Maes & Seiler (1999) haben die Basismechanismen zusammengefaßt dargestellt. Auf der einen Seite handelt es sich um einen allgemeinen Prozeß der Kategorisierung, der Glie derung und Einteilung. 1. Menschen tendieren zur spontanen Kategorisierung von Objekten. 2. Die Tendenz zur spontanen Kategorisierung zeigt sich bei sozialen und nichtsozialen Objek ten in gleicher Weise. 3. Merkmalsunterschiede zwischen den Kategorien werden maximiert. 4. Merkmalsunterschiede innerhalb von Kategorien werden minimiert. Bezogen auf unser Beispiel ist festzuhalten, daß sich diese Kategorisierung sowohl auf Dres den als Stadt (s. u.) sowie die Dresdner Bürger beziehen kann. Mit anderen Worten, in dem Moment, wo sich eine Person als Dresdner sieht, nimmt sie sich als den anderen Dresdnern ähn lich wahr, während die Unterschiede zu allen »Nicht-Dresdnern« subjektiv verstärkt werden.