15 erhaschten dies und das und stellten unsere Betrachtungen über die Volksstimmung an; danach fuhren wir mit dem E-Bus zum Einnehmerhäuschen an der Kohlenstraße hinauf. Dort im Wiesengarten, bei einem Glas Apfelsaft sahen wir auf die Stadt und die Elbhöhen hinab, der Borsberg trat bedeutend hervor, die Steine der Sächsischen Schweiz waren im Dunst erkennbar. Dann der langsame Spaziergang über die Südhöhe nach Hause, immer der schöne Fernblick, die vielen Blumen in den Vorgärten, das Froschquaken aus der Tiefe des abgebauten Ziegeleigeländes. Dann zu Haus der Austausch der Tageserlebnisse mit Kät- chen, das Politisieren beim I’ee, dann ein bißchen Vorlesen und dann ist es schon bald zwölf, und morgen muß soviel eingekauft werden, und ich möchte doch ein paar Stunden für mein Curriculum behalten. Der Tag ist zu kurz, ich schaffe nichts. Und jetzt war es Sechs und eine leere Endlosigkeit lag hinter mir, und es war noch nicht einmal eine von den sechzehn zu bewältigenden Endlosigkeiten, denn der Tag war zu Ende und es dauerte doch noch so lange, ehe die Nacht begann. Wie konnte ich mich aus dieser würgenden Leere retten? Was hatten andere Gefangene getan? Andre Chenier und Paul Verlaine haben im Gefängnis die schönsten Verse geschrieben. Ich bin kein Dichter, es ist dreißig Jahre her, daß ich geglaubt habe, einer zu sein, ich finde nicht einmal mehr die beschei densten Reime. Übrigens auch Verlaine und Chönier werden nur manchmal gedichtet haben, und sicher lag auch für sie zwischen Vers und Vers das Käfiggefühl und die Leere. Was haben andere getan, durchschnittlichere Menschen? Einer hat sich mit einer Spinne angefreundet. Hier gibt es keine Spinnen. Der Gefangene hat seine Zelle sauber zu halten, steht in der Hausordnung. In Pontens »Studenten von Lyon« beschäftigt sich der eine mit den Tauben auf dem Kirchdach vor seinem Kerker und tauft jede mit einem ihrer Indivi dualität angemessenen Namen. Hier ist kein Kerker, sondern das Polizeigefängnis im PPD. Durch das achtelgeöffnete Klappfenster kann ich mit schräger Kopfhaltung ein paar ober ste Fensterrahmen und Zinnen des großen Baus sehen, da sind keine Tauben. Ein paar mal, und eben jetzt wieder, habe ich Flugzeuge sehr dicht über dem Haus donnern hören, aber sie sind mir unsichtbar geblieben. (In den nächsten Tagen machte ich mir ein Omen daraus: wenn ich ein Flugzeug zu Gesicht bekomme, wird man mir Buch und Brille geben; ich habe kein einziges zu Gesicht bekommen.) Was sonst noch? Kurz vor Kriegsausbruch ist ein Brief Hans Meyerhofs nach abenteuerlicher Rundfahrt zu uns gedrungen; während H.’s Italienbesuch hat er 18 Tage in Schutzhaft gesessen. Wie viele Lieder habe ich in mei ner Einzelzelle gesungen? Ich, dazu bin ich zu unmusikalisch, bei den wenigen Melodien, die ich kenne, entgleise ich nach den ersten paar Takten. Ich habe auch von Leuten gele sen, die Schach mit sich selber spielen ohne Schachbrett. Dazu fehlt mir die Raumvorstel lung. Was noch? Andere haben mathematische Lehrsätze repetiert oder Rechenaufgaben gelöst. Das bringe ich schon gar nicht fertig. Ich habe ja vorhin kaum ausrechnen können, wie viele Zellenschritte auf eine einzige Stunde kommen. Wieder ist meine Darstellung falsch. Das eigentlich Schlimme fehlt ihr. Wie viele Zellen schritte lagen zwischen jedem dieser »Was noch«, wie viele Würgeanfälle des Nichts. Drau ßen flirrte etwas, ich wußte gleich, der Deckel des Gucklochs war beiseite geschoben worden. Eine Stimme, mehr väterlich als befehlend, rief »Schlafen gehn!« Es war ganz hell,