69 Wolfgang Hanke ö Kreuzchor und Thomanerchor — Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen Das erneute Erlebnis gemeinsamer Aufführungen von Bachs H-moll-Messe durch Kruzia- ner und Thomaner während der Jubiläumsfestwoche regt an, danach zu fragen, wie weit beide Chöre und ihre Kantoren bereits in früherer Zeit zueinander in Beziehungen stan den, welche Parallelen und Zusammenhänge es in ihrer Entwicklung gab. Zwar fließen nicht für alle Zeiten ihrer Geschichte die Quellen reichlich. Bis zur Reformation und noch danach ist den spärlich überlieferten urkundlichen Zeugnissen so gut wie nichts über Gemeinsamkeiten oder Querverbindungen zwischen Dresden und Leipzig zu entnehmen. In der Folgezeit entwickelten sich jedoch sehr viele Fäden zwischen dem Musikieken der sächsischen Residenz und der Ffandelsmetropole an Elster und Pleiße, die auch Kreuz- und Thomanerchor einschlossen: Ein gegenseitiges Geben und Nehmen, Wechselwirkun gen, gleichlaufende Erscheinungen, doch auch gravierende Unterschiede. Ein fundamentaler Unterschied, nicht so sehr in Aufgabe und Zielsetzung, wohl aber in der jeweiligen Einordnung der Chöre in die hierarchischen Strukturen von einst, bestand offenbar schon seit den Ursprüngen. Der Kreuzchor war allen Anzeichen nach eine städti sche Gründung, hervorgegangen aus einer Schule, die der Stadtkirche der Dresdner Bür gerschaft zugeordnet war. Thomasschule und Thomanerchor in Leipzig gelangten demge genüber erst nach der Einführung der Reformation, 1539, unter das städtische Regiment. Vordem unterstanden sie dem Augustiner-Chorherrenstift zu St. Thomas, und dieses war eine Gründung des Landesherrn, die im Jahre 1212 gegen den Willen der Bürgerschaft erfolgte und zunächst sogar deren erbitterte Gegenwehr auf den Plan rief. Das Chor herrenstift mag aber wohl dem Singen und Musizieren im Gottesdienst größeres Gewicht beigemessen haben als die städtische Pfarrkirche, denn aus dem mittelalterlichen Dresden ist nichts überliefert, das dem St.-Thomas-Graduale, jener für den mitteldeutschen Raum außerordentlich bedeutungsvollen Choralhandschrift der Zeit um 1300 vergleichbar gewe sen wäre. Einen weiteren Zuwachs an Potenzen, die auch das Gebiet der Musik berührten, erhielt Leipzig durch die Gründung der Universität im Jahre 1409. Sie gewann vor allem nach der Reformation einige Relevanz als Ausbildungsstätte für den Kantorennachwuchs. Auch mehrere Kreuzkantoren hatten an der Leipziger Alma Mater ihre Studien absolviert und zugleich umfangreiche Möglichkeiten gefunden, musikalische Erfahrungen zu sammeln, sei es im Rahmen studentischer Collegia musica, bei den Universitätsgottesdiensten oder