Ihre Handschrift giht Auskunft! Von RAFAEL SCHERMANN S tendhal, der berühmte französische Romancier und Psychologe, hat für die Verwandlung flüchtiger in dauernde Gefühle das Wort „Kristallisation“ ge schaffen. Er verstand darunter die Erschei nung, wie sich unter der Einwirkung des erotischen Fluidums, das ein Mensch zum ändern ausstrahlt, oberflächliche Reize und Empfindungen allmählich zu einem Phan tasiebild verdichten, das der Verliebte dann für das wirkliche Bild des begehrten Wesens nimmt. Für die Liebe mag dieser Prozeß der „Kristallisation“ nötig sein; es schadet auch nichts, wenn der Kristallisation später sozu sagen die „Entkristallisation“ folgt, das heißt, wenn nach fortschreitender Ab stumpfung der Reize, die anfangs im Spiel waren, jenes Phantasiebild zerbricht und die Konturen des wahren Bildes sichtbar werden läßt. Da möchte man beinahe sagen, daß ein Zuwenig an jenen illusionären Kräf ten, die zusammen die Kristallisation her vorbringen, immer noch besser ist als ein Zuviel. Oder, populär ausgedrückt: daß die Vernunft mehr mitbeteiligt sein sollte als die Leidenschaft. Doch das ist ja leider in der Mehrzahl der Ehen, selbst wenn sie nach außen hin glücklich erscheinen, das Unglück: daß die eheschließenden Teile, verblendet durch ein momentanes Gefühl, ihre Zuneigung zu einem Dauerzustand be festigen wollen, ohne sich vorher über den menschlichen Charakter des Partners Rechen schaft geben zu können. Man sollte nie vergessen, daß Ehen Le bensverträge sind. Bei Verträgen aber, zumal wenn sie auf lange Sicht geschlossen werden, kommt es nicht so sehr auf die augenblickliche Zuneigung und Harmonie der Paare an als auf die im Augenblick viel leicht verschütteten, verdrängten oder sonst wie unsichtbaren menschlichen Eigenschaf ten; denn nur sie verbürgen die Lebensläng- lichkeit. Doch was wissen in der Mehrzahl der Fälle die Brautleute voneinander, selbst wenn ihre Bekanntschaft nicht erst von gestern und vorgestern ist? Die erotische Anziehungskraft, die sie aufeinander üben, die Neuheit ihres Gefühlserlebnisses, der Illusionsreiz ihres noch seltenen Beisammen seins, hat sie daran verhindert, sich genau zu sehen und zu erkennen. Später wird es oft nach vier Wochen anders. Die bloße Gemeinschaft in den gleichen Räumen wirkt da in kurzer Zeit ernüchternd und ent hüllend. Es ist etwas sehr Verschiedenes, ob man sich von einem Mitmenschen allabendlich an der Haustür verabschiedet oder ob man mit ihm das gleiche Zimmer bewohnt, die gleiche Luft atmet, am gleichen Eßtisch sitzt. In der Gemeinschaft benimmt sich der Mensch un gezwungener, und da stoßen gleich die üblen 361