Bach und die norddeutsche Orgeltoccata: Fragen und Überlegungen* Von Friedhelm Krummacher (Kiel) Bach versus Buxtehude — die Akten über diesen Fall scheinen geschlossen zu sein. Unstrittig ist zwar, daß Bach den mitteldeutschen Bereich nicht noch ein mal so entschieden verließ wie mit seiner Schulzeit in Lüneburg und seiner Reise nach Lübeck. Die „Pilgerfahrt nach Lübeck“ wurde aber derart bean sprucht, daß ihre Mystifizierung die historische Realität verdeckte. * 1 Gewiß ist es bemerkenswert, daß der Nekrolog unter den von Bach geschätzten Musi kern Reinken, Bruhns und Buxtehude nannte, während Carl Philipp Emanuel Bach diese Reihe durch den Namen Böhms ergänzte. 2 Indes hat schon Spitta die Beziehungen Bachs zur norddeutschen Tradition so beredt dargestellt, daß seine Skizze nur einzelne Ergänzungen zuließ. 3 Bachs Verhältnis zur norddeut schen Orgelmusik erscheint in Handbüchern und Lexika als ein gesichertes Faktum, das weitere Untersuchungen fast überflüssig macht. So eindringlich Spitta aber Buxtehude als Vorgänger Bachs charakterisierte, so unverkennbar bleibt doch bei nüchterner Betrachtung der Abstand, der Bachs reife Orgelwerke von der schweifenden Vielteiligkeit norddeutscher Toccaten trennt. 4 Versteht man die Polarität von Präludium und Fuge als formale Vor aussetzung der freien Orgelwerke Bachs, so scheint fast jeder Zusammenhang mit dem Formenvorrat der norddeutschen Musik zu fehlen. Und die frühen Werke Bachs, in denen noch der Typus der älteren Toccata durchscheint, wer den dann zu bloßen Vorformen oder zu Belegen einer Entwicklung, die ihnen nur dokumentarischen Wert beläßt. Bachs Auseinandersetzung mit der Tradi tion muß als ein zwar interessantes, aber wenig folgenreiches Zwischenspiel erscheinen, solange nicht ihre Bedeutung noch für die späteren Werke einsich tig zu machen ist. Zu fragen wäre also, in welchem Maß die norddeutsche Toccata über frühe Formexperimente hinaus für Bachs Musik Folgen hatte. Falls die formalen Differenzen unaufhebbar wirken, ist um so mehr nach weiteren Kriterien der Satzstruktur zu suchen. Zu prüfen wäre zunächst, ob in Bachs Orgelwerk Spu ren jener Probleme begegnen, die sich in der norddeutschen Musik verfolgen lassen. Diese Frage zielt weder auf eine Chronologie noch auf eine Systematik von Bachs Orgelwerk ab. Sie sucht nur den wechselnden Lösungen im gattungs geschichtlichen Kontext zu folgen. Und je mehr sie auf Kriterien weist, die * Referat, gehalten am i. Juli 1983 im Rahmen des von der Karl-Marx-Universität Leip zig veranstalteten Kolloquiums „Johann Sebastian Bachs Traditionsraum“. Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis der Tagungsleitung. 1 Bezeichnend ist die Erzählung von H. Franck, Die Pilgerfahrt nach Lübeck. Eine Bach- Novelle. Berlin 1948. Denn unabhängig von ihrem Niveau färben solche Texte auch die skeptischen Reaktionen der Wissenschaft. 2 Dok III, S. 82 und 288; J. N. Forkel, Lieber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. 5. 3 Spitta I, S. 251-308, besonders S. 256-289.