Über die Tradition des Cantus-firmus-Kanons. Eine Ergänzung zum Thema: Bach und das Mittelalter M Von Hans Grüß (Leipzig) Als Heinrich Besseler seinen Beitrag zur Wissenschaftlichen Bachtagung Leip zig 1950 „Bach und das Mittelalter“ 1 2 vortrug, war sein spätes Hauptwerk „Bourdon und Fauxbourdon - Studien zum Ursprung der Niederländischen Musik“’ im Erscheinen. Hauptgegenstand dieser Studien war das Entstehen der „dominantischen Tonalität“ (These 37); sie wird verstanden als „das natür liche System der Tonalität“ (These 51), als „dem Organismus des Menschen angepaßt“ (These 52). Jahre später gewinnt der Gedanke noch schärfere Kon turen, es heißt zu Dufays Liedsätzen der mittleren Zeit: „Zu den . . . Spätwerken mit Dur-Tonalität vergleiche man Dufays mittlere Schaffenszeit . . . Tonale Harmonik beherrscht aber auch die Werke in Moll; Kirchentonarten sind Ausnah men. Im 18. Jahrhundert wurde die Musik durch die tonale Harmonik mehr und mehr auf den Menschen bezogen. Diese Blickrichtung nahm im 15. Jahrhundert Dufay erstaunlich vorweg.“ 3 Zugleich wird hier in jähem Sprung die tonale Harmonik des 18. Jahrhunderts als in besonderem Maße auf den Menschen bezogen verstanden, eine enge phänomenologische Klammer verbindet Dufays Werk mit der musikalischen Welt des 18. Jahrhunderts, Renaissance und Barock werden als von verwand ten Momenten geformte historische Situationen gesehen, als eine unter brechende Phase wird von Besseler der Manierismus der Zeit zwischen 1530 und 1600 erkannt. Es ist hier nicht der Ort, über Einwände und Gegenvor stellungen zu diesem Versuch einer phänomenologisch begründeten Epochen gliederung zu handeln, immerhin verdient der an systemimmanenten Krite rien orientierte Denkansatz hohes Interesse. Wichtig ist für den vorliegenden Gedankengang jedoch, daß die Blickrichtung Besselers bei der Behandlung der Beziehungen Bachs zum gesamten Raum der auf ihn gekommenen musikali schen Tradition der Entwicklung der Harmonik das entscheidende Gewicht zumaß. Sie ist das konstituierende Moment des „euphonischen Kontrapunkts“, in dem seit dem 15. Jahrhundert, das heißt seit Dufay, der Klang als neue Grundkraft an die Stelle des Rhythmus getreten sei. Er bildet den „Einheits ablauf“ des Klangstroms, der durch Bach seine zusätzliche Prägung durch den Affekt erhält: „Der Einheitsablauf ist bei Perotin vom Rhythmus geprägt, bei Dufay vom Klangstrom, bei Bach von der Affektdarstellung.“ 4 1 Bericht über die Wissenschaftliche Bachtagung der Gesellschaft für Musikforscbung Leip zig 23. bis 26. Juli /950, im Aufträge des Deutschen Bach-Ausschusses 1950 hrsg. von W. Vetter und E. H. Meyer, bearb. von H. H. Eggebrecht, Leipzig 1951 (im folgenden zit. Bachtagung), S. 108 ff. 2 H. Besseler, Bourdon und Fauxbourdon - Studien zum Ursprung der Niederländischen Musik, Leipzig 1950. 3 H. Besseler, Das Renaissanceproblem in der Musik, AfMw 23, 1966, S. 1 ff., insbesondere , S. 9. 4 Bachtagung, S. 116.