Johann Sebastian Bachs „Actus tragicus“ (BWV 106) 41 Dorothea Susanna im Alter von 34 Jahren starb und bei ihrem Tode vier Kinder im Alter von 4 bis 11 Jahren hinterließ. Die Beerdigung fand am 3.6.1708 mit „2 Zeichen“ - einem zweimaligen Geläut - auf dem St. Marienfriedhof statt, und es ist denkbar, daß Bach die Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ für diesen Anlaß geschrieben hat. Da von Spitta und Terry angenommen wird, daß der Lobgesang Simeons auf den Tod eines alten Mannes schließen läßt, ist zu untersuchen, ob der Kantatentext im Zusammenhang mit dem Tod einer jungen Frau gesehen werden kann. Bereits der Eingangschor und das folgende Arioso „Herr, lehre uns be denken“ ermahnen die Lebenden, stets des Abrufs gewärtig zu sein und sind für einen mitten aus dem Leben und seinen Aufgaben gerissenen Menschen viel zutreffender als für einen älteren, dessen Pflichten im Erden leben erfüllt sind. Auch in der Verteilung der Solostimmen charakterisiert Bach das Geschehen wie in vielen seiner Werke. Singen im Chorsatz „Es ist der alte Bund“ die Unterstimmen von der Tragik des Menschenlebens, so erklingt gleichzeitig die Bitte „Ja, komm, Herr Jesu“ von der höchsten Chorstimme. Das Bekenntnis des Verstorbenen „In deine Hände befehlich meinen Geist“ hat Bach der Altstimme bestimmt und danach, wenn durch das Baß-Solo die Gewißheit verkündet wird „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“, kann die gleiche Stimme noch sagen „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“. Die Baß-Partien sind den Worten Gottes und Christus Vorbehalten. In diesem Zusammenhang muß die Annahme, daß die Verwendung des Lob gesangs Simeons auf den Tod eines alten Mannes schließen läßt, in Frage gestellt werden, denn Bach hätte wohl kaum einen verstorbenen alten Mann durch die Alt-Stimme charakterisiert. So läßt sich abschließend feststellen, daß Bachs Kantate sehr wohl auch auf den Tod einer weiblichen Person geschrieben sein kann. Außerdem muß dazu noch in Betracht gezogen werden, daß bei den damaligen Verkehrs verhältnissen die Nachricht vom Tode des Onkels schwerlich so rechtzeitig in Mühlhausen eingetroffen sein kann, daß sich Komposition und Einstu dierung des Werkes zeitgerecht zur Beerdigung ermöglichen ließen, und von einem Gedenkgottesdienst für den Verstorbenen, wie er in jener Zeit vielfach noch später abgehalten wurde, ist uns in diesem Falle zumindest nichts überliefert (BJ 1925, S. 117). Wäre das Werk dagegen als Trauerkantate für den Weimarer Rektor Groß gebauer im Jahre 1711 komponiert worden, so hätte Bach es sicher anders gestaltet. Gegen eine derart späte Datierung spricht die innere Verwandt schaft des „Actus tragicus“ zu den anderen Mühlhäuser Kantaten Bachs, besonders aber zur Kantate 131; sie bestärkt die Annahme, daß die Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ erstmalig am 3. Juni 1708 erklang. 4 Bach-Jahrbuch 1970