Zur Chronologie Der Hanöschrift Johann Chriftoph Altnichole unö Johann Frieörich Agricolas von Alfred Dürr (Göttingen) Bei allen Werken (oder auch Werkfassungen) Johann Sebastian Bachs, die nicht in originalen Quellen überliefert sind, steht die Forschung vor der schwierigen Aufgabe, den Wert der mehr oder minder zahlreich vorhande nen abschriftlichen Quellen gegeneinander abzuwägen. Derartige Ko pien können unmittelbar unter Bachs Augen entstanden sein; sie können aber auch auf dem Umwege über eine größere Zahl von Zwischenquellen Entstelltes oder gar Unechtes tradieren; und nicht selten liegen beide Mög lichkeiten dicht beieinander. Es sei nur an die „Möllersche Handschrift“ erinnert (BB Mus. ms. 40 644), die mit einem Autograph und mehreren Ab schriften zu den wichtigsten Quellen des Bachschen Frühwerks zählt, zu gleich aber auch so dubiose Stücke wie die Klaviersuite BWV 83 3 enthält. Man wird daher ofmals bei ein- und demselben Schreiber fragen müssen, zu welchem genauen Zeitpunkt seine Abschrift entstanden ist, um deren Ver läßlichkeit prüfen zu können. Unter den zahlreichen Beispielen für unser Problem ist die Frühfassung der Matthäus-Passion vielleicht das markanteste. Seitdem die einstmals der Berliner Singakademie gehörige Abschrift 1 durch die Kriegsereignisse von 1945 verloren gegangen ist, besitzen wir zwei Zeugen dieser Fassung: 1. Die Handschrift der Amalienbibliothek Am.B. 6\y in der BB, heute in der Staatsbibliothek Berlin-Dahlem. Als ihr Schreiber galt früher Johann Philipp Kirnberger; in neuerer Zeit konnte jedoch Bachs Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol (1719-1759) als Schreiber ermittelt wer den. 2 Beigelegt ist der Abschrift ein von Johann Friedrich Agricola ge schriebenes Textheft. 2. Die Abschrift von der Hand des Bachschülers Johann Friedrich Agri cola (1720-1774) im Besitz der BB, heute in der Staatsbibliothek Berlin- Dahlem. Signatur: Mus. ms. Bach P 26. Seltsamerweise sind in ihr nur einzelne Partien ausgeschrieben, während für die fehlenden Sätze und Teile einzelner Sätze der erforderliche Raum gelassen wurde. Jeder Versuch, Licht in die Frühgeschichte der Matthäus-Passion zu brin gen, wird sich also mit der Frage beschäftigen müssen, wann diese Hand schriften entstanden sind und welches ihre mutmaßlichen Vorlagen gewesen sind. 1 Es muß sich um eine in der Singakademie selbst nach Am. B. 4jy gefertigte Ab schrift gehandelt haben. Einzelheiten werden im Krit. Bericht NBAII/5 mitzuteilen sein. 2 Durch die Arbeiten am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tübingen. So W. Plath im Schreiberkatalog der Bach-Quellen der Amalienbibliothek (Ms.) und G. von Dadelsen in: TBSt 1, S. 21.