6 Bernhard Paumgartner Senkung geweiht, um derentwillen er die ansehnlichere Stellung am Cöthe- ner Hofe aufgegeben hatte, um ein bürgerlicher Kantor in Leipzig zu wer den : die „regulierte Kirchenmusik zu Gottes Ehre“, die Passionen und Kan taten, dazu einen wesentlichen Teil seiner Orgelstücke. Was er, in diesem Kreise ein völlig „eingeordneter“ Künstler im restlosen Vollzug seiner prä- stabilierten Daseinsnotwendigkeit, dem ewigen Geiste im geheimnisvollen Dämmer seiner Komponierstube abgerungen, Musik von Gott und für Gott, die ungeheure tönende Kuppel über dem alten Luthertempel des rechtgläubigen Wortes, das alles verkam, fast während er noch lebte, im raschen Niedergang der alten hochbarocken protestantischen Kirchenfeier lichkeit durch die musikalischen Simplifikationstendenzen des Pietismus, durch die Nüchternheit der Aufklärung. Die Tragik der Bachschen Existenz beruhte darin, daß er diesen Verfall, ein unaufhaltsames Ereignis im Strom der allgemeinen Geisteswandlung, durch die Gewalt seiner Musik nicht zu hemmen vermochte. Ihm, dem Verkünder, blieb es verwehrt, was dem Weltmann Händel selbstverständlich war: seine religiöse Kunst aus der liturgischen Bindung in die freie Gemeinschaft einer neuerstarkenden, kultur- und humanitätsbeflissenen Bürgerschaft hinauszuführen. Daß Bach jedoch, was den übrigen Teil seiner Lebensarbeit betraf, eine Zeitlang so gründlich vergessen blieb, wie es die Legende wollte, ist heute längst widerlegt. Dies wird allein schon durch die überraschend große Zahl zeitgenössischer Abschriften des Wohltemperierten Klaviers und der ande ren Bachschen Lehrwerke bewiesen. Der Ruhm seiner Söhne und seiner Schüler ging von ihm aus und wirkte auf ihn zurück. Es gab sicherlich kei nen deutschen Musiker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der sei nen Namen nicht mit dem größten Respekt ausgesprochen hätte. Jeder wußte wenigstens von ihm, daß er der größte Könner im strengen Stil ge wesen war, unheimlich durch die Tiefe und Unfehlbarkeit seiner kontra punktischen Logik und Technik, selbst dort, wo sie die der neuen Richtung ergebenen Gemüter in Verwirrung brachte. Die neue Bachbewegung be gann nicht erst mit jener historischen Berliner Aufführung der Matthäus- Passion unter Mendelssohn (1829), sondern schon eine Generation früher, ungefähr damals, als die erste am 3. Oktober 1798 unter der Leitung von Johann Friedrich Rochlitz erschienene Nummer der „Leipziger Allgemei nen musikalischen Zeitung“ ihre Titelseite mit dem Bilde des Thomas kantors schmückte. Bald darauf, in der Epoche der Hochblüte der Wiener Klassik, erscheinen auch die ersten Vokalwerke Bachs bei deutschen Ver legern. Es wäre ein Irrtum, zu vermuten, daß die Bereitschaft für die Kunst Bachs, von den spezifisch kirchlichen Werken abgesehen, in jener zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts innerhalb des süddeutsch-österreichischen Raumes ge ringer gewesen sei als im nördlicheren Deutschland. Wenn man damals auch im galanten oder empfindsamen Stil das Ideal sah und die „gearbeitete Schreibweise“ durch mehrere Jahrzehnte eine nur bescheidene, episoden hafte Verwendung in der Praxis fand, gehörte der „Kontrapunkt“ doch