Verfuch über Bache Harmonik Von Carl Dahlhaus (Göttingen) I. Die pädagogisch motivierte Gewohnheit, Harmonik und Stimmfüh rung starr zu trennen, versperrt die Einsicht in Bachs Harmonik. Die Harmonik verarmt zum „Vorrat“ an Akkorden, ihre Geschichte zur fort schreitenden „Emanzipation der Harmonie von den Fesseln der Stimm führung“. 1 Aber die Akkordschemata der Harmonielehre sind nicht die Harmonik der musikalischen Wirklichkeit, die vielmehr niemals getrennt von der Stimmführung verstanden werden kann. So ist etwa die ,,Befreiung der Dissonanz, welche vorher ein ängstliches und gebundenes Dasein ge führt hatte“ 2 , als Emanzipation der Harmonik zugleich eine Emanzipation der Stimmführung. Von M. Zulauf, dem wir eine ausführliche Darstellung der Harmonik J. S. Bachs verdanken 3 , wurde die Tatsache der „Wechselwirkung“ zwar nicht geleugnet, aber als „Stilkriterium“ einseitig gesehen und nur als „Durchsetzung der Harmonien mit melodischen Elementen“ (S. 106) analy siert. „Die gegenseitige Durchdringung und Verschmelzung von Kontra punktik und Harmonik ist ein wichtigstes Stilkriterium Bachs . . . Man ver gesse die historische Stellung Bachs zwischen den Zeitaltern der Polyphonie und der Klassik nicht. Sie ermöglicht es ihm, nach beiden Richtungen zu weisen“ (S. 65). Doch ist die „Durchdringung von Kontrapunktik und Harmonik“ kein bloßes Merkmal einer „Übergangszeit“, sondern als Kom positionsproblem seit Bach — oder Schütz, oder den Madrigalisten des 16. Jahrhunderts, oder Dufay — eines der wesentlichen „Motive“ der Musik geschichte. Auchgenügt es nicht, sich bei dem Begriff der „Durchdringung“ oder „Wechselwirkung“ zu beruhigen, sondern eine Theorie der Harmonik müßte zu bestimmen versuchen, in welchen Formen die Wechselwirkung sich entfaltet. Eine Formel für die Beziehung zwischen Harmonik und Stimmführung bei Bach gibt es nicht. Weder ist die Stimmführung nur „auskomponierte“ Harmonik noch die Harmonik nur das ,,Zufallsresultat“ des Zusammentreffens der Stimmen. Ein Beispiel der Wechselwirkung — das sich einer Analyse, die Grund und Folge zu zeigen versucht, nicht durch die „Abgeschlossenheit“ des wider spruchslos Geglückten entzieht — sind die Takte 8—11 der a-Moll-Fuge aus dem I. Teil des Wohltemperierten Klaviers (s. Beispiel 1). Im Vordersatz des Themas (Baß T. 8—9) ist der Ton H melodisch Übergang zur Terz, d Übergang zur Quinte, e Quinte des Grundtons, E allerdings 1 H. Keller, Studien -zur Harmonik Job. Seb.Bachs, BJ 1954, S.51. 2 A. Halm, Harmonielehre (Sammlung Göschen), 1902, S.70. 3 M. Zulauf, Die Harmonik Joh. Seb. Bachs (Berner Veröffentlichungen zur Musikfor schung, Heft 1). 1935.