16 Gut. Aber braucht der Künstler die Aktphotographie nicht neben dem Naturstudium zur Erziehung seines Auges, zur Stärkung seines Formengedächtnisses, zur Gewinnung eines idealen Formenschatzes? Das Naturstudium macht sie sür ihn vollkommen entbehrlich. Er kann sie jedoch neben dem Naturstudium brauchen, wenn sie reine, nach künstlerischen Gesichtspunkten hergestellte Wiedergaben der Natur sind. Allein durch die Beobachtungen, die ich bei der Durchsicht von Tau senden von Aktphotographien verschiedner Herkunft gemacht habe, bin ich überzeugt worden, daß die auf diesen Photographien dargestellten Modelle nicht Nähr- und Lehrmittel für Künstleraugen, sondern Reizmittel für die Sinne unreifer oder sittlich schwacher oder perverser Menschen sind. Bei höchstens zehn vom Hundert dieser Photographien lassen die Motivierung der Nacktheit des Modells, die Komposition, die von dem Modell unter der Einwirkung des Photographen geschaffene Pose, die neben der Haltung und dem Gesichtsausdruck die Rolle kennzeichnenden ethno graphischen, gewerblichen und sozialen Attribute, endlich die Behandlung des Wohnraumes oder des Naturausschnitts, worin das Modell erscheint, glauben, daß ein Künstler das lebende Bild für die mechanische Fixierung zurechtgemacht hat. Wie wird auf neunzig vom Hundert dieser Bilder die Nacktheit des Modells motiviert? Da sitzt, mit Strümpfen und Spangen bekleidet, ein derbes weibliches Modell mit rohen Zügen auf einer Zimmerschaukel. Durch einen Kopf schmuck von künstlichen Rosen, Armspangen, ein Halskettchen von Halb monden wird die Gestalt als Odaliske bezeichnet. Ein orientalischer Hocker vor einem geblümten Tüllvorhang deutet den Haremrahmen an. Ein Gläs chen mit Bier, das sie gegen den Beschauer hebt, paßt, abgesehen von seiner Kleinheit, trefflich zu ihren derben Zügen, vernichtet den ganzen Harem schwindel, nimmt dem Bilde damit den entschuldigenden ethnographischen Schleier und läßt den Beschauer in dem Bilde keine durch das Klima und die Volkssitte einigermaßen begründete Nacktheit, sondern eine ausgezogne weibliche Gestalt, eine verlorne Tochter unsers eignen Volkes sehen. Kein Künstler, der diese Bezeichnung verdient, kann sich von den durch das Gläschen Bier geweckten quälenden Vorstellungen frei machen. Ein solches Gemisch von Dummheit und Gemeinheit ist aus dem Geiste eines Porno graphen entsprungen und für rohe, nur das Geschlecht suchende Lüstlinge bestimmt. Das Odaliskenmotiv wird zu Tod gehetzt mit Darstellungen von Modellen, die Spuren der Rhachitis und des Kummers, Klumpfüße und Schnürfalten, Steatopygie und Muskelatrophie zeigen, und durch eine Ver bindung mit dem Amorettenmotiv zur Schaffung ausgelassner, gemeiner Dar stellungen nutzbar gemacht. Ein Putte kann in übermütigem Spiel von einem Baume ins Gras