i°7 Paul stellt Gurlitt in seiner Widersprüchlichkeit dar, in seiner Größe wie in seiner Be schränktheit. Er zeigt ihn als ob seiner Vielfalt faszinierenden Publizisten und Lehrer, aber er ver schweigt nicht, daß ein derart breites Spektrum - das eine Biographie über August den Starken (1924) ebenso umfaßte wie ein Werk zur Baukunst Konstantinopels (1907) - ohne Oberfläch lichkeit und Subjektivität nicht möglich ist. Auch das politisch und ideologiegeschichtlich hei kelste Kapitel wird nicht ausgeblendet: Gurlitt war Anhänger der fatalen Strömung, die ihre Bi bel in Fritz Langbehns antiintellektuellem, völkischem, rassistischem Buch »Rembrandt als Erzieher« fand. Kurz vor seinem Tod 1938 sollte Gurlitt selbst noch von deren giftigen Auswüch sen eingeholt werden: als Halbjude entsprach er, der überzeugte Deutschnationale, nicht mehr den Anforderungen an »Rassereinheit«. Jürgen Paul läßt - und das ist die eine Qualität - seine Sympathien für den Protagonisten er kennen, ohne die notwendige Distanz aufzugeben und Probleme zu verschweigen. Bei der prä zisen Zeichnung des Bildes konnte er auf ein Konvolut von Briefen aus Familienbesitz zurück greifen, das er erschlossen hat und das sich nun im Archiv der TU Dresden befindet. Die andere Qualität ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Autor die Geistes- und Kunstgeschichte auf blättert, die Souveränität, mit der er die Positionen und ihre Vertreter vorführt, die Sicherheit, mit der er Gurlitt in diesem Spektrum einordnet. So ist dieses Buch mehr als eine Biographie, es ist ein beachtlicher Beitrag zur Kulturgeschichte nicht nur Dresdens. Allerdings stellt das stupende Wissen des Autors an den weniger gebildeten Leser passagenweise einige Anforderungen. Zur besseren Lesbarkeit hätte man sich im Anhang einen Lebenslauf und eine Familientafel gewünscht - und vielleicht auch ein freundlicheres Layout. Gilbert Lupfer