71 Misolette Bablet Emile Jaques-Dalcroze in Hellerau Seine Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus - EIN EPOCHEMACHENDES PHÄNOMEN Am 29. Oktober 1909 hält der Schweizer Musiker Emile Jaques-Dalcroze im Unterrichtsraum von Fräulein Agnes Flint, Dippoldiswalder Gasse 15 in Dresden, einen Vortrag über eine neue Musikpädagogik, die Bewegung und Musik, »Schritte« und Musiktheorie verbindet: Die Rhyth mische Gymnastik. Für den Musiker ebenso wie für die Gartenstadt Hellerau, die sich im Bau befindet, ist diese Veranstaltung von großer Bedeutung. Wer ist Jaques-Dalcroze? (Der gängige Familienname Jaques ist mit dem Pseudonym Dalcroze ergänzt worden.) Warum ist er in Deutschland bekannt? Er wurde am 6. Juli 1865 in Wien ge boren. Seine Eltern waren Französisch sprechende Welsch-Schweizer. Der junge Jaques spielte be reits mit sechs Klavier: Seine Eltern nahmen ihn mit zu den berühmten Promenadenkonzerten, die oft von einem Mitglied der Familie Strauss dirigiert wurden. Im Jahr 1875 zog die Familie Ja ques nach Genf um, wo das Kind seine allgemeine Schul- und Musikausbildung erhielt. 1884 reist der junge Mann nach Paris und studiert dort Musik. Er lernt Schauspielkunst auch bei Talbot. Im September 1886 nimmt er ein Engagement als Orchesterdirigent im Theätre des Nouveautes in Algier an und entdeckt die Rhythmen der nordafrikanischen Musik: Sein musikalisches Emp finden wird dadurch aufgewühlt. Im Herbst 1887 entscheidet er sich, zwei Jahre lang an der Musikakademie in Wien zu studieren. Nach diesem Aufenthalt kehrt er für kurze Zeit nach Paris zurück, um dann 1891 in Genf zu bleiben, wo er zum Professor für Harmonielehre (1892) und Musiktheorie (1893) am Konservatorium berufen wird. Mit knapp dreißig Jahren Professor am Konservatorium zu sein, ist für die damalige Zeit eine Seltenheit. Aber der junge Musiker hatte in den vergangenen Jahren eine solche überbordende Kreativität entfaltet, die ihn geradezu zu dieser Position beruft: in der Öffentlichkeit macht ihn außerdem sein Charisma zum Prominenten. Er schreibt lyrische Werke wie La Veillee, Le Vio len maudit, Janie - von denen einige in Deutschland gespielt werden — und ab 1893 vorwiegend Gebärden- und Kinderlieder sowie Reigen, in denen er Gesten, Mimik, Spiel und Bewegung in einander fügt. Eine öffentliche Mitteilung von Jaques-Dalcroze über den Musikunterricht in der Schule und seine Vortrags-Vorführung mit Hilfe von fünf Schülern während des Kongresses des Vereins der Schweizerischen Tonkünstler in Solothurn am 1. Juli 1905 tragen dazu bei, das Interesse der deut schen Musiklehrer zu wecken, die als Beobachter eingeladen waren. Ein Jahr später in Berlin nach